Wunderwurzel für Genießer
In Franken heilt man sich beim Essen. Das „Penicillin des Gartens“, auch als Meerrettich bekannt, hat antibakterielle und womöglich auch antivirale Wirkung. (Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Meerrettich hilft gegen Grippe, Husten, Asthma, nicht gegen Corona.)
Text: Sabine Haubner
Eine gute Medizin schmeckt dem Gaumen bitter“, lautet eine sprichwörtliche Weisheit. Die Heilpflanze des Jahres 2021 verlangt nach einer Variante: Eine gute Medizin schmeckt ganz schön scharf. Und tatsächlich hat die Jury des NHV Theophrastus (NHV steht für Naturheilverfahren) diesmal die schärfste Gewürzpflanze gekürt, die der heimischen Erde entsproß. „Meerrettich (Armoracia rusticana) hat als Heilpflanze ein großes und bisher leider wenig ausgeschöpftes Potenzial“, lautet die Begründung ihrer Wahl.
In Franken allerdings scheint man sich der Heilkraft der Pflanze schon länger bewußt zu sein. Hier wird sie seit Jahrhunderten ganz selbstverständlich und auf die angenehmste Weise genutzt: in kulinarischer Form. Von Unter- bis Oberfranken schätzen Genießer die fahlbraune Wurzel des krautigen Kreuzblütlers als rassige Beilage zum Rindfleisch, Geschmackskrönung der Nürnberger Bratwürste oder als unverzichtbare Würze einer Räucherforelle. Der Kren, so die in einigen fränkischen Regionen etablierte Dialektbezeichnung des Meerrettichs, gehört zu Franken wie der Radi zu Oberbayern. Bei großen Festen kommt er nach wie vor auf den Tisch, etwa in Form des Fränkischen Hochzeitsessens, und saisonal ist er allgemein als winterlicher Scharfmacher gefragt.
Keimtötender Kren
Eine echte Herausforderung für die Schleimhäute, und das ist so gewünscht. „Er muß in die Zung‘ beißen, wenn er dies nicht tut (…), so ist er nicht gut“, beschreibt 1719 der deutsche Arzt und Naturforscher Michael Valentini die medizinisch erforderliche Qualität der Wurzel in seinem Kräuterbuch. Schon beim Reiben entfaltet diese ihre beißende Kraft, treibt Tränen in die Augen und läßt Nasensekret strömen. Verantwortlich dafür sind Umbauprodukte der enthaltenen Senfölglykoside. Diese werden von der Pflanze als Schutz gegen Fraßfeinde synthetisiert und sind geruchlos. Sobald aber die Wurzel verletzt wird, startet mit Hilfe eines gesondert gespeicherten Enzyms ein biochemischer Prozeß, bei dem die scharfen Senföle, vor allem Allylisothiocyanat, gebildet werden. Diese liefern den charakteristischen Geschmack und sind die wichtigsten heilsamen Wirkstoffe.
Was die jahrhundertelange Erfahrung meerrettichaffiner Menschen mit Erkältungssymptomen nahelegt, der Konsum frisch geriebenen Krens putzt verstopfte Atemwege aus, ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen. „Schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigten In-vitro-Studien, daß Senföle eine antibakterielle Wirkung besitzen und vielleicht sogar eine antivirale, etwa gegen Viren, welche die echte Grippe oder Influenza auslösen können“, beleuchtet der 2019 verstorbene Medizinhistoriker Dr. Johannes Mayer, ehemals Leiter der Forschergruppe Klostermedizin an der Universität Würzburg, die Anfänge der Meerrettich-Forschung in seinem Buch „Würzig kochen mit der Heilpflanze Meerrettich“ (Würzburg, 2017, S.15).
Senföle aus der Wurzel werden in Kombination mit denen der Kapuzinerkresse seit 1958 in einem Arzneimittel bei Infektionen der Harn- und Atemwege erfolgreich eingesetzt. Die volkstümliche Bezeichnung der pflanzlichen Droge als „Penicillin des Gartens“ ist also durchaus gerechtfertigt. Internationale Studien der vergangenen Jahre konnten inzwischen auch antivirale und antientzündliche Effekte der Meerrettich-Senföle bestätigen. Ihr vielfältiger therapeutischer Einsatz durch unsere Vorfahren wurde in der Schulmedizin wohl lange unterschätzt.
Von der positiven Wirkung auf die Harnwege und bei Asthma und Husten wußten offenbar schon die Gelehrten der Antike. Die Indikationen wurden etwa vom römischen Autor Quintus Gargilius Martialis im 3. Jahrhundert n. Chr. in seinem nur mehr fragmentarisch überlieferten Werk „Heilmittel aus Gemüsen und Früchten“ angeführt. Die umfangreichste Meerrettich-Monographie des Mittelalters liefert 1485 der „Gart der Gesundheit“.
Altes Heilwissen
Dieses erste Kräuterkompendium in deutscher Sprache empfiehlt den traditionellen Einsatz bei Asthma und Husten sowie Leiden der Harnwege. Außerdem hält er seinen Genuß für ein Gegenmittel bei giftigen Tierbissen und Vergiftungen. Entzündete Wunden und Mundfäule sind weitere Indikationen. Spätere Abhandlungen behielten im wesentlichen dieses Anwendungsspektrum bei.
Der Einsatz gegen Mundfäule, eine alte Bezeichnung für den gefürchteten Skorbut, hat sich in der Seefahrt früherer Jahrhunderte bewährt. Auf längere Fahrten wurden die haltbaren Wurzeln mitgeführt und zur Verhütung der Mangelkrankheit gegessen. Der erbrachte Beweis für andere wertvolle Stoffe der scharfen Wurzel: Sie bietet doppelt so viel Vitamin C wie die Zitrone, einige B-Vitamine sowie Mineralien wie Kalium, Calcium, Magnesium und Eisen.
Manche Kräuterkundige trauten dem Kreuzblütler noch mehr zu. Aus der Gestalt seiner unterirdischen Pfahlwurzel, walzenförmig und bis zu 60 Zentimeter lang, und deren idealer Bodenlage, schräg nach oben, schloß man auf eine luststeigernde Wirkung.
Womit eine freilich spekulative Verbindung zu Frankens kulinarischer Meerrettichtradition hergestellt wäre, dem Fränkischen Hochzeitsessen.
Geriebenes Rüstzeug für die Hochzeitsnacht?
Leberklößlesuppe mit Schwimmerle als Auftakt zu dem eigentlichen Genußereignis: gekochtes Rindfleisch in Scheiben mit Meerrettichgemüse, Preiselbeeren und Bandnudeln mit gerösteten Semmelbröseln. Die Eltern der Autorin haben ihre Eheschließung mit diesem Essen im unterfränkischen Grabfeld in den 60er Jahren gefeiert, und die Autorin selbst kennt es von vielen anderen Hochzeiten
und Erstkommunionen. Unwiderstehlich, und nur der Meerrettich schaffte die verdauungstechnische Voraussetzung für weitere Völlereien.
Sollte er etwa im Hochzeitsessen als eine Art pflanzliches Viagra fungieren, um den Bräutigam für die bevorstehende Nacht und viele Tausend weitere im Ehebett zu stärken? Die Volkskundlerin Julia Krieger, stellvertretende Heimatpflegerin des Bezirks Mittelfranken, kann diese kokette Frage nicht bejahen. Das gibt die Quellenlage nicht her. Möglicherweise. Sie könnte sich noch einen anderen Hintergrund der kulinarischen Tradition vorstellen, die es schon vor 1850 gegeben haben muß. „Rindfleisch wurde nur zu besonderen Festen gekocht. Und da es damals keine Kühlung gab, war das Fleisch möglicherweise nicht im frischesten Zustand.“ Das scharfe Aroma des Meerrettichs zum Kaschieren von Gammelgeschmack? Auch eine Erklärung. Vielleicht spielt hier aber auch die antimikrobielle Wirkung der Wurzel mit hinein. Die überlieferte Zubereitung des Gerichtes scheint frankenweit standardisiert zu sein. In Büchold, Landkreis Main-Spessart, wurde es genauso gekocht wie im Landkreis Rhön-Grabfeld. Nur der Name ist im lokalen Dialekt anders, Gria, Nudel un Rindfläsch, und anstelle der Preiselbeeren gab es zum Kren „Kümmeli“, eingelegte Gewürzgurken.
Gria, Nudel un Rindfläsch
Das ist von Rosemarie Feser zu erfahren, die aus Oberschlesien stammt und erst im Arnsteiner Ortsteil lernen mußte, wie das Festessen zubereitet wird. Das Rindfleisch wird in der Suppe gekocht, in der später die Leberklöße gar ziehen. Die Meerrettichstangen rieb sie früher an der frischen Luft im Hof und mußte dabei „bittere Tränen“ vergießen. Die Raspeln kamen zu ausgelassenem Schweinefett in die Pfanne, wurden mit Mehl angestäubt und leicht angeröstet. „Dann wurde der Kren mit der heißen Brühe aufgeschüttet und sämig gekocht.“ Eigelb und geschlagenes Eiweiß vollendeten das Gericht. Das Rezept blieb bis heute unverändert. Die Ausgangsware stammte vom „Griamannle“, einem der Krenhausierer, meist waren es Frauen, die vom Meerrettichland Mittelfranken aus mit der Stangenware im Huckelkorb über Land zogen und sie feilboten.
Im damaligen Anbauzentrum, der kleinen Stadt Baiersdorf am Rande der Fränkischen Schweiz, konzentriert sich noch heute ganz viel auf den Kren. Hier gibt es eine Meerrettichkönigin, einen traditionellen Krenmarkt und bis vor kurzem das schärfste Museum der Welt, betrieben vom ältesten Meerrettichproduzenten der Welt. Seit 1864 vertreibt das Familienunternehmen Schamel die Sonderfrucht und ihre Produkte, inzwischen in sechster Generation. Matthias Schamel erzählt von den Anfängen der Meerrettichkultur. „Der Überlieferung nach hat Markgraf Johann der Alchimist die Wurzel im 15. Jahrhundert von seinen Reisen aus Südosteuropa mitgebracht und in Baiersdorf eingeführt.“ Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der Krenanbau um Baiersdorf bereits eine große wirtschaftliche Bedeutung erlangt. „Die Stangenware wurde in große Holzfässer verfrachtet und ging über den Alten Donau-Main-Kanal in die Welt hinaus“. Österreich war ein großer Abnehmer, Schamel weiß aber auch, daß Baiersdorfer Meerrettich bis nach Tel Aviv geliefert wurde. „Das zeigt, daß er was ganz Besonderes ist.“ Sein Uropa hat den heutigen Kren-Köchinnen übrigens das tränenreiche Raspeln erspart. Er kam 1914 auf die Idee, den Kren genußfertig im Glas anzubieten.
Slawisches Lehnwort
Apropos Kren, das Wort beweist, wie informativ eine Dialektbezeichnung sein kann. Prof. Dr. Alfred Klepsch, Wissenschaftlicher Redakteur des Fränkischen Wörterbuchs an der Universität Erlangen-Nürnberg, führt sie auf das tschechische „křen“ für Meerrettich zurück. Ein Hinweis auf die Herkunft der Pflanze. „Sie kam im 9. Jahrhundert mit den Slawen, die in der Gegend bis zum Steigerwald angesiedelt wurden.“ Den Krenfrauen in ihren bunten Trachten und den schweren Butten saß er noch während seiner Studienzeit Anfang der 70er Jahre auf seinen Zugfahrten zwischen Schwabach und Erlangen gegenüber. Zu der Zeit versorgten die letzten dieser hart arbeitenden Hausiererinnen auch in Großbardorf im Grabfeld die Hausfrauen mit der fränkischen Wunderwurzel. Maria Haubner und ihre Schwägerin können sich noch an die „Krenweiber“ erinnern. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Und auch die letzten Baiersdorfer Krenbauern stemmen sich gegen ein Aussterben ihres Standes. Früher hatte jeder im Ort ein paar Stangen Kren angebaut, weiß der 55jährige Gerhard Roß. Doch die Meerrettichkultur ist mühselig, vor allem die Ernte im Winter mit gefrorenen Fingern, „a Scheißärberd hoch drei“. Die meisten haben aufgegeben, und auch er war schon so weit. „Doch dann ist 2010 der Schamel gekommen und hat gesagt, er braucht unbedingt an Kree. Wir sind quasi die Letzten und wenn wir’s ned machen, wer macht‘s dann?“ Zum Glück für die Liebhaber der gesunden Schärfe, denn seine Stangen gibt’s veredelt als regionales Bioprodukt im Glas.