Welke Höcker, schwarze Rinder und eine verlöschende Geheimsprache
In Rothenburgs Schlagschatten: Der Dragonergrund gehört zu Frankens verborgensten Winkeln.
Text: Eo Borucki | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Es hat tagelang geregnet. Als wollte der Himmel den Dragonergrund von der Frankenhöhe spülen. Er steht auf kaum einer Landkarte. Komische Geschichte, daß der Fotograf und ich überhaupt hier gelandet sind. Eigentlich wollten wir nämlich hier gar nicht hin, sondern haben einen Ort namens Matzenbach gesucht. Ach – zu den Katzenfressern wollen Sie? hat das Fräulein im Café in Rothenburg gesagt. Und die Köchin geholt, die es ganz genau weiß: Ein ganz komischer Stamm wohne da in Matzenbach, der sogar seine eigene Sprache habe, nämlich das Jenische (eine Art Banditensprache, sagt sie; nebenbei erwähnt, sei sie gar nicht die Köchin, sondern bloß die Anrichterin). Außerdem wären wir schlecht informiert, denn dort stünden nicht nur Katzen, sondern auch Igel auf dem Speiseplan. Wie extravagant! Genau da wollen wir hin! Aber das Schicksal will es anders: Kurz vor diesem spannenden Ort mit seinen spektakulären Bewohnern stellen wir fest, daß Matzenbach bereits fünf Kilometer jenseits der mittelfränkischen Grenze in Baden-Württemberg liegt. Eine Geschichte geht uns durch die Lappen, denn für jemanden, der fürs Franken-Magazin schreibt, herrscht hinter dieser Demarkationslinie journalistische Öde. Jammerschade. Aber das Schicksal ist kapriziös. Oder hält sich einfach an das fränkische Motto, wonach es nichts Schlechts gibt, wo ned ach sei Guds hat: Immerhin sind wir schon mal da. Rothenburg liegt in unserem Rücken, (und da liegt der etwas ausgeleierte Touristen-Köder mit seinem gotischen Blendwerk ganz gut), die Romantische Straße unter uns. Der Fotograf schlägt vor, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen und Richtung Schönbronn abzubiegen. Irgendwie sei er hier in der Ecke schon mal gewesen. Vielleicht könnten wir den Tag ja noch retten. Wie sich später herausstellt, soll er in jeder Hinsicht recht behalten.
Dafür sind die Pferde kuhartig gescheckt
Der Himmel über dem Dragonergrund zeigt sich in abweisendem Leberwurstgrau. Da und dort hat sich ins satte Grün schon ein rotes oder gelbes Nest gehockt. Der Straßenbelag ist fleckig wie eine Scheibe Rotgelegter. Traktoren auf den weiten Felder stoßen wütend Rußfahnen in den Himmel, stemmen sich in die morastigen Äcker und brechen die dampfende Scholle auf. Schwarze Angus-Rinder schauen durch seltsame, zweireihige Zäune. Dafür sind die Pferde kuhartig gescheckt. Die Kirchtürme ragen hinter hohen Platanen auf wie angespitzte Bleistifte. Gegen zwölf Uhr mittags halten wir in Schönbronn. Ein Idyll. In den Pfützen spiegeln sich Oleander, Trompetenblumen und eine angelaufene Zinkwanne. Hinter Lattenzäunen lauern kleine, scheue Tiger. Ein Gesicht hier reimt sich aufs andere. Es ist so still, daß man die Teller und das Besteck klappern hört. Und tatsächlich dengelt irgendwo am Dorfrand jemand eine Sense. Ins wellige Pflaster vor einer Art Gutshof hat jemand Löwenzahn gesteckt. Im Büro der Franki-Weidefleisch-Gesellschaft, der die vielen Angus- und Limousin-Rinder hinter den seltsamen Zäunen gehören, sitzt Fritz Wittemann. Er ist ein wirklich ungemein gutmütiger Kauz: Eigentlich hat er nämlich gar keine Zeit, weil er zu einem Familientreffen muß. Trotzdem versucht er, an allen Enden zu helfen. Warum der Dragonergrund so heißt? Er weiß es auch nicht. Ich stamme nicht von hier, müssen Sie wissen. Aber da gebe es eine Geschichte, wonach hier vor Jahrhunderten schwere, königlich-bayerische Kavallerie unablässig und verbissen bis 1908 Reiterangriffe geübt haben soll. Was irgendwann an dem gedrängten Tal und seinen grünen Höckern und Buckeln mit den gewaltigen Fichten darauf hängen blieb. Aber natürlich gibt’s hierzu auch eine Variante: So sollen die berittenen Boten des herrschenden Hohenlohischen Fürstenhauses von der Stammburg in Schillingsfürst aus beim Start gerne das natürliche Gefälle des Tales ausgenutzt und mit ordentlich Schmackes durch den Grund geprescht sein. Man sieht förmlich den Dreck von den Hufen spritzen. Klingt auch gut erzählt und scheint genauso plausibel.
Essen diese Herrschaften auch Katzen und Igel?
Außerdem, erzählt Wittemann, verlaufe hier die Europäische Wasserscheide: Nördlich von hier flössen alle Gewässer Richtung Nordsee, südlich der Richtung Alpen. Ach ja, erwähnenswert sei, daß im Dagonergrund noch ein paar alte Leutchen Jenisch sprächen, ein ganz besonderer Dialekt, die meisten, die ihn gesprochen hätten (Händler, Metzger) seien längst tot ….Fortuna gießt doch noch ihr Füllhorn über uns! Oder anders: Es gibt nix Schlechts, wo ned ach sei Guts hat. Essen diese Herrschaften auch Katzen und Igel, Herr Wittemann?
Wittemann greift zum Telefon, hebt die Brauen, und dann lächelt er verheißungsvoll, als er den Lautsprecher anstellt. Ute, die am anderen Ende ist, kümmert sich nämlich um die paar alten Leutchen. Da beißt Ihr auf Granit! Du kennst die doch, wenn ein Fremder kommt, sagen die nix, sagt die Dame. Wittemann redet auf besagte Ute ein. Ob die nicht mal eine Ausnahme machen könnten? Die sollen sich nicht so anstellen: Wenn die mal sterben, weiß doch niemand mehr, wie Jenisch geht, sagt Wittemann. Das sei denen aber egal, sagt die Dame. Auf das gleiche Argument hätten die schon öfter entwaffnend entgegnet, dann nähmen sie das Jenische halt mit ins Grab. Genauso sei das eben mit Geheimsprachen. Jammerschade. Wenigstens so viel finden wir noch heraus, daß die Anrichterin in Rothenburg nicht ganz recht hatte, denn das Jenische ist keine Banditen-, sondern eine Händlersprache, aus deutschen und jiddischen Wurzeln stammend mit Romani- und Rotwelsch-Elementen. Auch keltische Ursprünge werden vermutet, und manche Volkskundler halten die Jenischen (die keine Sinti oder Roma sind), für die Urnomaden Europas. Schwein heißt jenisch „Kaserum“, die Zwiebel „Stinker“, der Stuhl „Sitzling“ und das Reh „Mali Mecklenburgi“. Viel ist das nicht, aber immerhin etwas.
Wäre ein solcher Winkel Musik …
Und dann fängt Wittemann zu kichern an. Tatsächlich war der Fotograf schon mal hier, bei einem Weidefestival der Weidefleisch-Gesellschaft. Wirklich schöne Aufnahmen seien da entstanden, nur daß der Fotograf, nein, zu komisch aber auch, mit seinen offenbar ungemein edlen, italienischen Lederschuhen beim Knipsen auf der Weide mitten hinein in einen großen, dampfenden… und das nicht nur einmal, sondern …aber die Aufnahmen, die seien wirklich sehr, sehr schön geworden! Tja: Es gäbe eben nix Schlechts, wo ned ach sei Guts habe. Wir fahren weiter. Ein schönes Oval bildet der Dragonergrund, vielleicht 20 Kilometer. Die Höhen schimmern blau. In kleinen Alleen aus Walnuß und Ahorn leuchtet ätherisches Gelbgrün. Der Dragonergrund – mehr Garten als Landschaft. Wie der Hintergrund in einem Madonnenbild von Dürer.
Wäre ein solcher Winkel Musik – dieser wäre ein Schubert-Lied. Manches Fachwerk ist an den Efeu verloren. Hinter fränkischem Lattenzaun flammen Primeln, Sonnenblumen, Lupinen und was sonst in einen Bauerngarten gehört. In dem einen oder anderen Giebel wacht eine Schutzfrau. Wenn hier einer anfängt, Äpfel zu pflücken, tun es die anderen am selben Nachmittag auch. Trutziger werden jetzt die Gotteshäuser. Hagenaus wuchtige Dorfkirche, aus groben Felstrümmern geschichtet, kniet hinter Weiden und riesigen Ulmen. Kein Kirchturm weit und breit, der diesem ähnlich wäre, denn er liegt direkt an einem Bach. Neulich sollte der kleine Wasserlauf verlegt werden, so wird uns erzählt. Aber dann blieb doch alles so, wie es ist: Denn keiner wollte schuld daran sein, wenn sich dadurch die trutzigen Grundmauern senkten. Der Uhrturm im nahen Gastenfelden ist ebenfalls ein Unikum, nur, daß er kein Flüßchen, sondern eine kleine Tankstelle direkt an seinem Fuß bewacht. Die fleckige Straße führt weiter durch Schweikartswinden und Stilzendorf bis Schillingsfürst. Irgendwo in der Mitte beschirmt eine gewaltige Fichte eine ausgetretene Weide. Ihre Rinde haben die rauhen Rücken des Angus-Viehs bis zur Borke wundgescheuert. Am Brunnenhausweg in Schillingsfürst erhebt sich der imposante Wasserturm, der aus Backstein wächst, sich wie ein Schnittlauch verjüngt und dem zuoberst jemand eine viel zu wuchtige Mütze aufgesetzt hat. Das Schloß schwelgt im spanischen Barockstil.
Wunderdoktor aus dem Dragonergrund
Der bedeutendste Vertreter des Geschlechts Hohenlohe-Schillingsfürst war Fürst Chlodwig Karl Viktor, Prinz von Ratibor und Corvey, deutscher Reichskanzler von 1894 bis 1901. Er verschärfte die Politik gegenüber der Deutschen Sozialdemokratie, was die Arbeiter mit hämischem Verweis auf die vielen Armen im Dragonergrund quittierten. Heute noch ein Begriff ist dagegen ein Wunderdoktor: Friedrich von Hessing, 1838 hier im Dragonergrund geboren, war ein weltberühmter Orthopäde. Von Haus aus Schreiner und Orgelbauer, errichtete er 1869 in Göggingen bei Augsburg eine eigene orthopädische Heilanstalt. Der Literat Max Brod schildert in seinen Erinnerungen den Aufenthalt dort, wo ihm ein sogenanntes Hessingkorsett angepaßt wurde, um einer Wirbelsäulenverkrümmung entgegenzuwirken. Hessings Bauprinzipien wurden mit geringen Modifikationen in der Nachsorge bei Kinderlähmung bis heute beibehalten. Der Wunderdoktor aus dem Dragonergrund versorgte etwa 60 000 Patienten, wurde 1913 geadelt und starb hochangesehen 1918 in Göggingen. Die Hessing-Stiftung existiert bis heute. Durch enge Serpentinen rutschen wir vorbei an der verwaisten Metzgerei Trumpp mit ihren leeren Fenstern und dem rankenden Efeu, der die bröckelnde Fassade mühsam zusammenklammert. Jeder, der ein Herz hat, verliebt sich und möchte sofort hier einziehen. Oder wenigstens im gelben Hotel zur Post absteigen, das dem Schloß hoch oben auf dem Hügel beinahe Konkurrenz macht. Von dort grüßt durchs welke Laub ein letztes Mal der spanische Barock. Und schon schubsen uns die engen Kurven wieder Richtung Rothenburg. Der Dragonergrund liegt im Rückspiegel. Den merken wir uns.