„von hier und überall“
Der Künstler herman de vries
Text: Katharina Winterhalter | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Eigentlich wollten herman de vries und seine Frau Susanne die warmen Monate in ihrem Sommerhäuschen am Fuß der Hohen Wacht verbringen, aber – wie so oft – kam zu viel Arbeit dazwischen. Mehrere Ausstellungen waren vorzubereiten, unter anderem im Schloss in Oberschwappach und in Maria Bildhausen bei Münnerstadt. Außerdem hatte herman de vries Ideen für neue Arbeiten, einige Kuratorinnen und Kuratoren hatten ihren Besuch angekündigt – und dann wartet da auch noch ein dickes Buch auf seine Fertigstellung. In den letzten Jahren vor seinem frühen Tod hatte der Filmemacher Vince de Vries, einer der Söhne des Künstlers, seinen Vater in langen Gesprächen über seine Reisen in alle Welt befragt. Der Text ist transkribiert und korrigiert und nun liegt es an Susanne und herman de vries, aus ihrem umfangreichen Archiv die passenden Bilder herauszusuchen. Eine Mammutaufgabe, denn Tausende von Negativen und Dias vom monatelangen Unterwegssein sind noch nicht digitalisiert.
1956 reiste herman de vries nach Paris. Er war gerade einmal 24 Jahre alt, ein junger Künstler, der mit informellen Zeichnungen experimentierte – neben seiner Arbeit an einem Institut für angewandte biologische Forschung in der Natur. Er war ein wenig gelangweilt vom Leben in den Niederlanden. Was es an Kunst zu sehen gab, interessierte ihn nicht. Also Paris. In einem algerischen Café hörte er zum ersten Mal arabische Musik, die er bis heute liebt. Als er eines Tages wieder einmal durch die Gegend streifte, alles genau beobachtend, fielen ihm an einer Wand in der Rue St. Severin Fragmente von Plakaten auf. Kleine Fetzen, zusammengeklebt, verwittert. Vorsichtig löste er sie ab, steckte sie ein und klebte sie auf ein Stück Papier. Er nannte die Arbeit „what is rubbish?“, es war seine erste collage trouvé. herman de vries wußte damals nichts von Raymond Hains und den anderen Decollagisten, die abgerissene Plakatreste auf die Leinwand klebten und wie Tafelbilder präsentierten. Für ihn war es ein Weg aus der informellen Kunst, die er als Sackgasse empfand. Er wollte sich ausdrücken, nicht etwas abbilden.
Steigerwald statt Seychellen
1970 brach herman de vries zu seiner ersten langen Reise auf. Er lebte noch immer in den Niederlanden, aber der Kunstbetrieb war ihm zu eng geworden und er wollte mit Freunden eine kleine Insel auf den Seychellen kaufen. Es kam anders. Was er fand, war keine Insel, sondern die Erkenntnis, daß aus Veränderungen immer Chancen erwachsen. Und schließlich entdeckte er auch die Gegend, in der er fortan in Ruhe und abseits des Trubels arbeiten konnte und die ihm zur „heimat“ wurde: der Steigerwald. Seit vielen Jahren leben herman de vries und seine Frau Susanne im alten Schulhaus in Eschenau, einem mächtigen Sandsteingebäude mit einer energiegeladenen und lebendigen Atmosphäre. So hat es der Autor Mel Gooding empfunden. Er beschrieb das Haus einmal als wissenschaftlich-künstlerisch-philosophisches Forschungsinstitut, das nun einmal zufällig in Eschenau angesiedelt sei.
herman de vries erschließt sich die Welt im Gehen – ob er nun auf Reisen oder zu Hause ist. Auch wenn das Gehen mit den Jahren beschwerlicher geworden ist, vergeht doch kaum ein Tag, an dem er, Susanne und eine der Mitarbeiterinnen nicht in der Natur unterwegs sind – und sei es nur für eine kostbare Stunde. Beim Gehen beobachtet er aufmerksam, was um ihn herum geschieht, mehr noch, er nimmt es mit allen Sinnen wahr. Den Wind in den Blättern, den Sound eines Baches, den Geruch vom Eichenlaub, die vielen Nuancen von Grün im Wald. Er freut sich über jede seltene Pflanze am Wegrand, die er sogleich bestimmt. Und sammelt, was ihm ins Auge fällt: Zweige, Blätter, Steine, Knochen, Aschen, Erden, Artefakte. Dinge, die von der Entstehung und dem Wandel der Welt erzählen, von ihrer Schönheit und ihrer Vergänglichkeit. Was er auswählt, folgt keiner bestimmten Systematik, sondern wird, so herman de vries, „von der poesie des augenblicks bestimmt, von den visuellen chancen in der natur.“ Jedes andere Blatt, jeder Stein, den er liegen läßt, kann als ebenso bedeutsam angesehen werden. Die Dinge sind auch keine Symbole für etwas, sie sind, was sie sind und erzählen ihre eigene Geschichte.
Im Sommer 2015 reiste herman de vries nach Amsterdam, zur Eröffnung der ZERO-Ausstellung im Stedelijk Museum. Es war ein heißer Tag, und herman war sehr erschöpft. In diesem Zustand hilft oft Bewegung. Also machte er einen kleinen Spaziergang rund um das Hotel. Kaum stand er auf dem Gehweg, sah er auch schon das erste Fitzelchen Papier, zerknüllt, halb verrottet. Er bückte sich, hob es auf und steckte es in einen Plastikbeutel, von denen er immer einen Vorrat in seiner Hosentasche hat. Schon bald war das Tütchen gefüllt mit den wunderlichsten Dingen: einer winzigen Vogelfeder auf einem Blatt, einem Zweig, Silberpapier, zwei Scherben, einer Haarnadel, einer Zigarettenkippe, dem verrosteten Deckel einer Flasche. Später hat Susanne de Vries aus den Fundstücken ein kleines Bild montiert. Es erzählt vom Leben in dieser Stadt, von den Vögeln und Bäumen, von den Gewohnheiten der Menschen, was sie essen, trinken und rauchen und wegwerfen. Auch davon, wie Dinge in Amsterdam altern. Und es erzählt von seinem Besuch dort, von dem kleinen Spaziergang, auf dem er seine Erschöpfung vergaß.
Diese Auseinandersetzung mit der Welt ist intuitiv und rational zugleich. Und genauso fällt herman de vries auch die Entscheidung, die Fundstücke zu präsentieren: entweder nach dem Zufallsprinzip oder systematisch gereiht oder als Solitär. Aber niemals verändert er die Dinge oder komponiert sie zu einem Bild. Diese Art der Präsentation in exakter, einen Vergleich ermöglichender Reihung, ist von seiner frühen wissenschaftlichen Arbeit geprägt, aber auch von seinem Interesse an der Tradition der naturgeschichtlichen Sammlungen des 19. Jahrhunderts.
Bei der Ausstellung der Galerie im Saal im Schloss Oberschwappach (noch bis 23. Oktober) sind Arbeiten „von hier und überall“ zu sehen. Die verwitterten Holzstücke und Steine aus der Region beispielsweise werden als Solitäre auf Sockeln gezeigt. Eine Bodeninstallation mit 108 Pfund Lavendel wird die Räume mit dem Duft vom Sommer im Süden erfüllen. „substrate“ nennen herman und Susanne all das, was in der Natur unter Bäumen und Sträuchern liegt und am Vergehen ist. Achtlos gehen wir daran vorüber. Gesammelt und hinter Glas in einem Ausstellungsraum gezeigt, erkennen wir die Vielfalt und Schönheit. Davon erzählt auch das „steigerwald journal“, rund 70 kleine Bilder, dicht an dicht an eine Wand gehängt, zeigt es Dinge, die herman de vries zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gefunden hat: Erden, Pflanzen und kleine Holzstücke aus seinem 200 Quadratkilometer großen Atelier.
Solche „journale“ gibt es von vielen Orten: von Venedig, wo herman de vries 2015 sein Geburtsland Niederlande vertreten hat oder von Bahrain. 2019 hatte das Nationalmuseum in der Hauptstadt Manama herman de vries eingeladen, eine große Soloausstellung zu zeigen. Wie immer wollte der Künstler vor allem Arbeiten präsentieren, die einen direkten Bezug zum Land, seiner Kultur, seinen Menschen und seiner Natur haben. Selbst reisen konnte er nicht mehr und so bat er mich, für ihn nach Bahrain zu reisen und dort zu schauen, zu sammeln, zu filmen und fotografieren. „du kannst mit meinen augen frei spazieren gehen“, gab er mir mit auf den Weg. Zwei Koffer voll Fundstücke brachte ich mit zurück, ein großes „journal“ entstand, aber Corona verhinderte die Ausstellung. In Oberschwappach wird nun eine Serie von Dattelkernen gezeigt. Kleine Erinnerung an die Menschen in Bahrain, die ihre Dattelpalmen lieben, sie hegen und pflegen.
herman de vries ist nun 91 Jahre alt. Der Zustand der Erschöpfung ist ihm vertraut. Aber oft entstehen gerade dann, wenn seine Gedanken ausruhen wollen, spontane Zeichnungen oder Gedichte. Fast immer beschreiben die Gedichte einen Moment, eine Erfahrung, eine Beobachtung. Am 22. Juni 2022 schrieb er dies:
im sommer sein
im wald gehen
tief unter die bäumen
im dickicht
der duft der pinien
und feuchte erde
und all das kleine im großen
die erfahrung da zu sein
in der mitte
und ohne grenzen