Und sie dreht sich doch!
Es knistert, es rauscht, und gelegentlich knackst ein Staubkorn in der Rille. Schallplatten haben eben ihren eigenen, aber auch ihren unverwüstlichen Charme. Dabei hatte die Phono-Industrie vor dreißig Jahren bereits den Tod der Vinyl-Scheiben verkündet. Was für ein kolossaler Irrtum! Ein Ortstermin in Bamberg und in Würzburg bei zwei besonderen Läden.
Text: Markus Mauritz | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Konspirativ geht es im „musicland“ eigentlich nicht zu. Gediegen würde den Plattenladen in der Würzburger Innenstadt besser beschreiben. Angelockt von ein paar LP-Hüllen im Schaufenster, betritt man den kleinen Raum und steht inmitten geräumiger Schütten. Jede vollgestopft mit Schallplatten. Die Covers sind gelegentlich schon ein wenig abgegriffen, wie man es von Liebhaberstücken erwartet. In den Regalen im Hintergrund reihen sich Buchrücken aneinander. Daneben hat jemand mit Reißzwecken Bilder an die Wand gepinnt. Hinter einer Theke steht Martin Schneeberger und lächelt. Er kam schon während seines Philosophie-Studiums – damals noch als Aushilfskraft – in das Geschäft, und er ist bis heute hier geblieben. Ihm gefällt die „besondere Atmosphäre“ und, „daß man sich nicht so wichtig nimmt“.
Damals gehörten vor allem Studenten auf der Suche nach preisgünstigen Gebraucht-CDs und alten Schallplatten zu den Kunden. „Musik zum Downloaden gab es damals noch nicht“, erinnert sich Schneeberger, „und Streamingdienste wie Spotify erst recht nicht!“ Heute kommen vor allem Sammler zu ihm in den Laden: „Originelle Menschen mit großen Herzen“, mit denen man über „Gott und die Welt“ und natürlich über Musik diskutieren könne.
Vielleicht ist dieser kommunikative Klebstoff ja der eigentliche Grund für die Renaissance der Schallplatte: das Hören verbindet uns mit der Welt – womöglich mehr als jeder andere unserer Sinne. Und das Ohr funktioniert nun mal analog, nicht digital. Alle unsere Sinne arbeiten analog – also stufenlos und unterbrechungsfrei. Die Welt in ihrer Schönheit ist analog – und nicht digital verpixelt! Klänge setzen sich aus vielen Tönen zusammen, die sich gegenseitig überlagern, die sich durch Frequenzen und Lautstärken unterscheiden, deren Intervalle unserem Ohr Richtung und Charakter eines Tons vermitteln. Deshalb klingt die Musik auf CDs so aseptisch, deshalb ist der Wohlklang einer Schallplatte so unvergleichlich viel schöner.
Martin Schneeberger hat für diesen Gegensatz eine wunderbare Formulierung gefunden: „Die CD höre ich, aber die Schallplatte verstehe ich!“ Zugegeben: Vinyl-Scheiben können knistern und knacken, sie können verkratzen und verstauben, CDs kompensieren derartige Störungen. Aber dafür bringen sie auch nur seelenlose Digitalmusik zu Gehör. Kein Vergleich zum war-men Klang einer Schallplatte. Deswegen steigen deren Verkaufszahlen so rasant: 2012 wurden erstmals wieder eine Million Langspielplatten verkauft. 2021 waren es bereits 4,4 Millionen – wobei Antiquariate wie das „musicland“ gar nicht berücksichtigt sind. Im gleichen Zeitraum wurden allerdings auch 25,1 Millionen CDs verkauft. Das wäre eine beeindruckende Zahl, hätten nicht dreißig Jahre zuvor mehr als 104 Millionen Musik-Silberlinge eine Käuferin oder einen Käufer gefunden. 1994 waren es sogar mal 166 Millionen Stück.
Auch Carlo Herrmann, der das Würzburger „musicland“ 1988 gegründet hat und in Bamberg zudem das „new musicland“ betreibt, gab seinerzeit der Schallplatte nur mehr ein paar Jahre: „Ich dachte, ab 2000 ist alles vorbei!“ Die Zukunft gehöre der CD, die schwarze Scheibe habe ausgedient. Dabei hält eine Schallplatte bei guter Pflege deutlich länger als die meisten digitalen Medien. Im Grunde genommen sind die Vinylscheiben unbegrenzt haltbar. Im Gegensatz dazu werden CDs gelegentlich schon nach zehn Jahren unleserlich, wie mancher Musikliebhaber mittlerweile weiß. Trotzdem wird heutzutage jede Information, die etwas auf sich hält, in ein computerlesbares Format umgewandelt. Fotos, Texte, Filme, sogar Steuererklärungen, alles muß sich dem Digital-Diktat unterordnen. Selbst die Uhrzeit liest mancher von einem Digital-Chronometer ab. Dabei sollte wirklich jeder wissen, daß Stunden und Minuten zwar mal schneller und mal langsamer, aber immer analog vergehen. Die Musikliebhaber leisten allerdings seit etlichen Jahren Widerstand gegen den Trend der Digitalisierung. Manche Jazz- und Pop-Labels bringen ihre Alben längst auch wieder auf Vinyl gepreßt heraus, wie zum Beispiel das auf Jazz spezialisierte Plattenunternehmen „Impulse!“. Als 2018 die Masterbänder einer Einspielung von John Coltrane aus dem Jahr 1963 wiederentdeckt wurden, brachte „Impulse!“ die Platte als Doppelalbum mit eingelegtem Poster unter dem Titel „Both Directions at Once“ heraus – als wäre in den 55 Jahren dazwischen nichts passiert! Auch längst vergriffene Einspielungen wie das legendäre Porgy und Bess-Album von Miles Davis und dem Gil-Evans-Orchester, 1958 bei Columbia Records erschienen, sind wieder neu gepreßt im Handel. Legendär, weil es die erste Miles Davis-Platte in Stereo war.
„Im Jahr 2012 ging’s mit den Platten wieder los“, erinnert sich Carlo Herrmann an die Wiedergeburt eines totgesagten Kulturguts. Zunächst seien die Scheiben nur „Secondhand“ über Tauschbörsen zu haben gewesen. Jetzt wäre sogar der komplette „Led Zeppelin-Katalog“, die Doors oder die zwölf Beatles-Alben, die zwischen 1963 und 1970 veröffentlicht wurden, erhältlich: „Alle Aufnahmen remastert und in einer attraktiven Box!“ betont Herrmann.
Verglichen mit den Charts sieht er sein Plattenangebot trotzdem in einer „Parallelwelt“, wie er es formuliert. Deutsche Schlager würden bei ihm nicht nachgefragt, stattdessen suchten seine Kunden nach Musik aus den 60er-, 70er- und 80er-Jahren. „Best oft the Kinks“ hat er im Angebot oder Connie Francis oder Musiker, die heute längst niemand mehr kennt, wie das Gesangsduo „Dale & Grace“, die Rock‘n‘Roll-Truppe „The Crescendos“ aus Nashville oder das recht adrette Quartett „The Four Preps“. Dabei seien seine Kunden bei weitem nicht nur ältere Herrschaften auf der Suche nach Jugenderinnerungen. Auch unter jungen Leuten sei die Faszination an Schallplatten ungebrochen, beobachtet Carlo Herrmann.
In seinem Bamberger Laden lehnen die schönsten Plattencovers als Wandschmuck auf schmalen Regalbrettern, denn im Gegensatz zu trashigen CD-Plastikhüllen haben Langspielplatten seit jeher zu künstlerischer Gestaltung eingeladen. Roy Liechtenstein, Keith Haring, Joseph Beuys, Andy Warhol – sie alle haben auf Plattenhüllen ihre Kunst hinterlassen. Oder wer erinnert sich nicht an die Warhol-Banane auf dem Debüt-Album von Velvet Underground? Oder die „Sticky Fingers“-LP der Rolling Stones mit echtem Reißverschluß auf dem Cover? Was damals manche Eltern schockte, ist heute ein begehrtes Sammlerstück. Je schöner die Verpackung, desto feierlicher der Moment, wenn man eine Schallplatte vorsichtig aus ihrer Hülle zieht, wenn man sie auf den Plattenteller legt, wenn die Nadel des Tonabnehmers mit einem satten Klack die Rille auf der schwarze Scheibe findet und mit einem leisen Kratzen die Musik anhebt. Das ist ein wunderbarer Zauber, den mittlerweile Musikliebhaber aller Altersgruppen so empfinden, auch, wenn „die Jugend heute nicht mehr so gierig ist, daß sie alles haben will“, wie Carlo Herrmann weiß. Dafür seien die jungen Leute „breiter aufgestellt, als wir es waren“, erinnert sich der 62jährige. Früher habe man mit seinem Musikgeschmack seine Weltsicht ausgedrückt: „Das war ein Stück weit Identifikation!“
Schallplatten waren damals der persönliche Soundtrack zum Leben. Schallplatten sind auch heute noch für viele eine Tonspur, die Erinnerungen weckt: an die erste Party, den ersten Tanz, den ersten Kuß. Schallplatten konservieren Atmosphären, halten Stimmungen fest. CDs nicht! CDs sind einfach nur ein billig hergestelltes Massenprodukt. Schallplatten sammelt man, CDs wirft man in die Tonne, wenn sie ausgedient haben.
Oder wie es Martin Schneeberger in seiner feingeistigen Art ausdrückt: „Mit einer Schallplatte versteht man den Sinn der Musik.“ Bei so viel Harmoniegenuß verzeiht man seinem Plattenspieler selbst dessen einzigen Schönheitsfehler: Er hat keine Fernbedienung.