Tod und Text
Epitaphien-Künstler und Liedermacher: Thomas Haydn vereint seit Jahrzehnten zwei kreative Welten. Zwei Berufungen. Zwei Künste. Zwei Rollen – ein Mann: Der Österreicher und Wahlfranke
Text: Anabel Schaffer | Fotos: Tim Händel
Thomas Haydn kreiert Verstorbenen die letzte Visitenkarte in Form kunstvoller Epitaphien und begeistert Musikfans mit der Sprache seiner Lieder. Ein Künstlerleben zwischen Tod und Text, zwischen Atelier und Auftritt, zwischen Rückzug und Rampenlicht. Wie finden diese so unterschiedlichen Rollen in einem Leben zusammen?
Aufmerksam sieht er die alte Dame an. Sie hält den Entwurf des Epitaphs für ihren Mann bereits in Händen – doch da ist noch was, das heraus will. Thomas Haydn schiebt die Brille von der Nase, klemmt sie sich um den Hals und lauscht der Begebenheit von einst, als gäbe es nichts um ihn her, das wichtiger wäre. Die Dame lächelt. Wieder ein kleiner Schritt zur Bewältigung ihrer Trauer. Im Gehen fällt ihr Blick auf einen Skorpion, daneben sitzt ein Hirschkäfer auf einer Wurzel. „So lebensecht!“ Sie staunt. „Und alles aus Bronze!“ Etwas weiter liegt der Abguß einer Grabplatte, die Haydn vor Jahren anfertigte: Unter wilden Wolken kämpft ein Schiff auf hoher See. Gleich darüber hängt das Plakat zu Haydns nächstem Auftritt. Titel des neuen Bühnenprogramms: „Blinder Passagier“.
Zufall? Ein Passagier auf dem See des Lebens, war Haydn allemal, als er aus dem niederösterreichischen Mostviertel, nahe seiner Geburtsstadt St. Pölten, 1991 nach Franken übersiedelte. „Im Urlaub hatte ich Landsleute kennengelernt, die in Fürth lebten. Was ich damals brauchte, fand ich zu Hause nicht, ich wollte raus in die weite Welt – nach Fürth.“ Herzlich lacht er auf. Fürth! Doch der Musiker, dessen Schwerpunkt im österreichischen Dialekt und auf deutschen Texten liegt, kommt rasch an in Franken.
Gerade noch absolviert er in Zeil am Main für 100 Deutsche Mark seinen ersten Soloauftritt in Deutschland, schon ist er auf musikalischer Partnersuche und landet recht plötzlich im Kreis der fränkischen Bandmusiker-Elite. „Eine unfaßbare Truppe! Norbert Nagel, Jo Barnikel, Yogo Pausch, Norbert Meyer-Venus, Andreas Blüml …“ Weitere Namen purzeln nur so aus ihm heraus.
Liebe, Weltschmerz und noch mehr
An das Zeichenbrett im Atelier gelehnt, erzählt der 55jährige von Freundschaften, Proben und Auftritten – die tiefbraunen Augen lodern unter den schwarz-grau melierten Haaren, die ihm in die Stirn fallen. Den österreichischen Zungenschlag hat er bis heute behalten, ebenso die Gabe, sich der Faszination mit der unterstützenden Sturheit eines Steinbocks hinzugeben. „Als Künstler hilft eine gewisse Hartnäckigkeit“, betont er verschmitzt, „sonst gibst du zu schnell auf.“
Bereits als Bursch verschwindet er den halben Tag in seinem Zimmer: die Gitarre und er, sonst nichts. „Damals war‘s üblich, ein Instrument zu spielen.“ Nach Ziehharmonika und Geige fasziniert ihn die Gitarre jedoch mehr als alles andere. „Mein Bruder hat mir die ersten Griffe gezeigt.“ Unterricht? „Nie.“ Mit 16 hört er Wecker, Ambros, „im Grunde alle deutsch-sprachigen Singer-Song-Writer“, textet und komponiert. Die Themen? „Liebe, Dramen, Weltschmerz“ – er grinst. „Die ganzen Leiden des jungen Werther!“ Über Jahrzehnte hinweg erlebt man den Musiker in verschiedenen Formationen. Im Fürther Stadttheater, beim Rheingau Musikfestival, auf der Wiese vor Kloster Banz, im Fernsehen bei Florian Schröder und in Ottis Schlachthof, kürzlich als Gast von Konstantin Wecker, auf renommierten Kleinkunstbühnen … „Eigentlich in ganz Deutschland.“ Das kommt unprätentiös. Womöglich auch deshalb, weil da parallel stets dieses andere künstlerische Gewicht war, dem der Tod seinen Sinn gibt. 2003 eröffnet Thomas Haydn, mit Blick auf den berühmten Nürnberger Johannis-Friedhof, sein Atelier für Epitaphien.
Neue Wege in einer uralten Kunst
Hier wird erzählt, geschwiegen, geweint, sogar gelacht. Hier öffnen sich Herzen, entstehen erste Skizzen auf Papier und schließlich individuelle Lebensrückblicke, die man anfassen kann. Zwei- oder dreidimensional, zeitgemäß und in Bronze gegossen. „Die Geschichten für meine Epitaphien liefern die Menschen selbst“, sagt Haydn, dessen Kunst mit der Ausbildung für Metallgestaltung 1982 in Steyr ihren Anfang nahm.
Kaum in Fürth angelangt, arbeitet er bei einem Restaurator, entdeckt in Nürnberg die Kunstgießerei Lenz und kommt erstmals mit der Epitaphienkultur in Berührung. „Ich hab‘ diese Unikate gesehen, bin über den Johannis-Friedhof gegangen und hab‘ sofort gespürt, daß sich da ein ganz breites Spektrum auftut.“ Die Nebel über dem See des Lebens, gaben die Sicht auf einen neuen Hafen frei. Und der Passagier? „Heute sage ich, das hier hat auf mich gewartet.“
Der 55jährige fährt sich durch die Haare, setzt sich an den Schreibtisch. Vor ihm liegen viele bunte Mappen, jede mit Entwürfen gefüllt. „Ich hab‘ gut zu tun!“ Ein Erfolg, der Mut erforderte. Haydn beschritt neue visuelle Wege in einer uralten Kunst und stellte das Individuum in den Mittelpunkt. Er überführte die künstlerische Tradition in die Jetztzeit und kämpfte 17 Jahre um mehr Wertschätzung für diese Trauerkultur. 2018 steht die Nürnberger Epitaphien-Kultur der Friedhöfe St. Johannis und St. Rochus dann endlich auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der Unesco auf bayerischer Ebene.
Lange trennt er: Tom macht Musik, Thomas Haydn ist Epitaphien-Künstler. Doch in Ateliergesprächen ergeben sich ebenso Bekanntschaften wie am Bühnenrand – und beide Gruppen interessiert der jeweils andere Haydn. „Klar, bedient man Rollen. Doch entdecke ich immer mehr Gemeinsames; ist mein künstlerischer Kern, von dem beide Berufungen leben, doch derselbe.“ So entsteht beim meditativen Ziselieren an einem Epitaph nicht selten ein Liedtext.
Eine weitere Gemeinsamkeit: der kreative Druck. „Es muß dir kontinuierlich etwas Neues einfallen! Zum Beispiel laufen für ein Bühnenprogramm die Ankündigungen, du aber weißt noch keinen Titel und hast erst zwei von 12 Songs geschrieben.“ Die Lösung? „Ich mach‘s wie ein Schüler, der sich vor der nahenden Prüfung hinsetzt und sich zwingt. Oft denk‘ ich kurz vor der Premiere: Ich sag‘ alles ab!“ Getan hat er es noch nie. Der Druckabbau gelingt in der Natur und durch Bewegung: „Wandern, auf‘n Berg gehen, Schwammerl suchen, Radl fahren oder Tennis spielen.“
Kunstvoll-geistreich blöd daherreden
In seinen Liedern stecke mehr von ihm als früher. „Sich zu zeigen, hat ja mit Selbstakzeptanz zu tun“, sinniert Haydn. Auch das Thema Tod sei in beiden Kunstbereichen präsent. „Natürlich hat mich die österreichische Trauermentalität geprägt: das barocke Wesen, der spezielle Humor, der auch zur Bewältigung dient, dazu unser Volkssport ,Schmäh führen‘, also auf kunstvoll-geistreichem Niveau blöd daherreden …“ Da ist es wieder, dieses schelmisch-charmante Lachen, das Menschen nach wenigen Momenten für ihn einnimmt.
Als gläubig würde er sich zwar bezeichnen, sagt der katholisch aufgewachsene Künstler. „Doch eher spirituell als religiös.“ Hat er Angst vor dem Tod? „Ja.“ Kein Zögern. Warum? „Weil ich gerne lebe“, sagt er entschieden. „Der Kreislauf der Welt, die Biologie, der Tod als bloße Transformation eines Zustands …“, deklamiert er mit ausladenden Bewegungen. „Stimmt alles. Trotzdem hab‘ ich Muffe!“ Und das eigene Epitaph? Er kneift die Augen zusammen. „Lieber wär‘s mir, wenn sich jemand anders darüber den Kopf zerbricht.“ Wie würde er sich denn charakterisieren? „Oje!“ Er beißt sich auf die Unterlippe. „Wahrscheinlich bin ich ein total eitler Sack. Ich mag keine Allüren, vermutlich hab‘ ich aber welche. Ich bin ein lebensfroher Pessimist. Sehr analytisch und hinterfragend, neige durchaus zur Melancholie. Ich liebe Humor – auch den schwarzen …“ Schweigen. Dann unvermittelt: „Ich hab‘ gerade 20jähriges Atelierjubiläum, nächstes Jahr 30jähriges als Musiker in Franken! Wir feiern im Fürther Stadttheater.“ Zufrieden sieht er aus. „Wir“, das ist seine neue Band.
Welchen Hafen er nun anpeilen will, weiß Passagier Haydn bereits. „Ich möchte noch für viele Menschen Epitaphien kreieren und noch viele Lieder auf Tonträger und Bühnen bringen. Mein Sinn scheint zu sein, etwas zu erschaffen.“ Die Wogen seines See des Lebens scheinen erst einmal bewegt zu bleiben.