Sumpfschrecke und Drehwurz
Der Schwund der Biodiversität und das Artensterben sind lebensbedrohend und müssen sofort gestoppt werden. Diese Ansage der Weltnaturkonferenz in Montreal hat aufgerüttelt. In Bayern machen sich seit 20 Jahren Gebietsbetreuerinnen und -betreuer für den Erhalt wertvoller Naturräume stark. Ihre Kernaufgabe ist der Artenschutz. Wie der in der Praxis aussieht, erläutern drei Akteure des Naturschutzmodells – zwei in den feuchten Tallagen des Spessarts und eine auf den trockenen Hängen des fränkischen Muschelkalks.
Text: Sabine Haubner | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Manchmal genügt eine banale Fahrspur, um einer Art das Überleben zu ermöglichen. Und damit es mit ihr weitergehen kann, einen aufmerksamen Menschen mit der passenden Kompetenz. Torsten Ruf ist der eine Teil einer solch glücklichen Koinzidenz im Spessart und zeigt uns Ende Oktober die Nische des Kleinen Helmkrauts. Wir treffen den Gebietsbetreuer für Grünland im Naturpark Spessart im Naturschutzgebiet „Aubachtal“, östlich von Eschau (Lkr. Miltenberg). Der Wildbach hat sich in den dichten Mischwald eingegraben und wird von einem schmalen Wiesenband eingefaßt. Nur wenige Schritte vom Parkplatz ist der Standort entfernt, trotzdem wären jetzt Gummistiefel angebracht: Wir sinken tief in den wasserdurchtränkten Grund. Ruf stoppt am eingefrästen Reifenprofil und beugt sich zu einem kaum sichtbaren Pflänzchen hinunter. „Es sieht nicht sehr spektakulär aus, aber es ist sein einziger Standort im Spessart, und der wäre fast verschwunden.“ 2016 war der Bestand des zierlichen, rosablühenden Lippenblütlers auf ein Exemplar zusammengeschrumpft – und geriet ein wenig in Vergessenheit. Bis Ruf die Fachdatenbank nach botanischen Raritäten abscannte und im vergangenen Jahr den ehemaligen Fundort aufsuchte. Er wurde belohnt mit dem Anblick der Pflanze, die für ihn „was Herausragendes“ ist.
Ausgerechnet Kontrollarbeiten mit schweren Fahrzeugen an einer hier verlaufenden Gasleitung haben ihr im vergangenen Jahr Auftrieb gegeben. Ihre Standortansprüche naß, sauer, nährstoffarm – sie ist eine echte Moorpflanze – wurden durch die verdichtete Bodenspur bedient. Außerdem machten die Reifen die Konkurrenz platt. „Drumherum war’s komplett zugewachsen, da wäre das Kraut bald erstickt.“ Jetzt kümmert sich Ruf um ihr Wohlergehen. Er hat Pflegemaßnahmen eingeleitet, konkret: Am Tag zuvor wurden Gehölze und Stauden beseitigt, per ferngesteuerter Mulchraupe und mit viel Handarbeit.
Erfolgsmodell im Naturschutz
Der Naturschützer hat außerdem das Monitoring des Standorts übernommen. Er überwacht, wie sich der Bestand entwickelt, konzipiert ein Pflegekonzept für die künftige Offenhaltung des Areals. Artenschutz in der Praxis und typische Aufgaben eines Gebietsbetreuers im Naturschutz. 2002 wurde das Modell Gebietsbetreuung in Bayern etabliert, um die sensibelsten und spannendsten Landschaften des Freistaates besser schützen zu können. Gefördert wird es vom Bayerischen Naturschutzfonds in Kooperation mit mit lokalen Projektträgern wie Naturschutzvereinen, -verbänden und kommunalen Einrichtungen. Ein erfolgreiches Konzept, das von allen Beteiligten positiv bewertet wird. Die inzwischen mehr als 70 Akteure fungieren vor Ort gewissermaßen als Schnittstelle zwischen den Naturschutzbehörden und den Landwirten beziehungsweise Eigentümern. Sie sind deren Ansprechpartner, wenn es um die Vermittlung von Fördergeldern geht, sie beraten zur naturnahen Bewirtschaftung des Kulturlandes, entwickeln und begleiten Projekte zum Schutz gefährdeter Arten und Biotope. Doch damit ist ihr Aufgabenspektrum noch nicht ganz aufgefächert: Sie werben außerdem für ihre Gebiete in der Öffentlichkeit durch Führungen und Vorträge.
In Unterfranken startete das Modell vor 20 Jahren mit einem Gebietsbetreuer. Inzwischen wurden ihm weitere sechs Kolleginnen und Kollegen zur Seite gestellt. Für den gesamten bayerischen Spessart, mit den Landkreisen Aschaffenburg, Miltenberg und Main-Spessart sowie der Stadt Aschaffenburg, sind der Diplomgeograf Christian Salomon und der studierte Naturschützer und Landschaftsplaner Torsten Ruf zuständig. Innerhalb des Gesamtgebietes hat noch mal jeder seine Schwerpunkte und Spezialprojekte. „Unser Kernthema ist der Artenschutz“, überschreibt Ruf das gesamte Spektrum – und der beschränkt sich im Aubachtal nicht auf das Kleine Helmkraut. Hier kreuzt die nächste feuchtigkeitsliebende Art unseren Weg: eine olivgrüne Sumpfschrecke. „Wenn man solche Arten aus dem Blick verliert, dann haben wir sie eines Tages, wie schon viele andere auch, verloren“, warnt Ruf.
Urige Artenschützer
„Das waren früher Wässerwiesen, oft abgelegen, kaum gedüngt und maschinell nicht zu nutzen“, erklärt Christian Salomon die Entstehung dieser Spessart-Lebensräume, die über eine besonders hohe Biodiversität verfügen. Um sie zu erhalten, sei die Beweidung heute meist die einzig praktikable Lösung. „Im besten Fall setzen wir gefährdete, alte Haustierrassen ein“, wie etwa die Moorschnucken. Die Schafe sind bestens an das Leben in Moor- und Sumpfgebieten angepaßt: Ihre Klauen trotzen der Bodennässe und ihr Verdauungstrakt kann die derben Gräser wie Pfeifengras und Segge gut verwerten. Seit 2018 werden Moorschnucken im oberen Hafenlohrtal als Landschaftspfleger eingesetzt – ein Pilotprojekt des Naturparks Spessart. Diese feuchte Talsohle rund um die mäandernde Hafenlohr ist Salomon besonders ans Herz gewachsen. Er hat hier bereits 2009 im Auftrag des Naturparks ein anderes Pilotprojekt übernommen und weiterentwickelt: die spektakuläre Beweidung durch Wasserbüffel und Exmoorponys. Für die extremen Standortbedingungen mit den sehr nassen Wiesen kamen heimische Rinder oder Schafe nicht in Frage. „Sie würden gesundheitliche Probleme kriegen wie Klauenentzündung und könnten die nährstoffarmen Sauergräser schwer verwerten“, erklärt Salomon. Wenn entsprechende Tierhalter gefunden und die extensive Weidewirtschaft angelaufen ist, müssen die Gebietsbetreuer überprüfen, „ob sie so durchgeführt wird, daß es der Natur guttut“. Im Hafenlohrtal läuft es jedenfalls richtig gut. Die urigen Robustrinder fühlen sich inzwischen auf drei Weideflächen wohl, sind wahre Besuchermagneten und haben die Biodiversität beträchtlich gesteigert: In und um die entstandenen Kleingewässer und Weiderasen haben sich viele neue Tier- und Pflanzenarten angesiedelt.
Schachblume und Orchidee mit Dreh
Extrem seltene Pflanzenvorkommen hat Salomon im Sinngrund unter seine Fittiche genommen. Da wäre etwa der unscheinbare Haarstrangwasserfenchel, der sonst nirgends mehr in Bayern vorkommt, oder die Schachblume, die mit ihren attraktiven Blüten im Frühling ganze Wiesen mit Purpur überzieht. Weitere botanische Raritäten seines Gebietes sind die Arnika, der Sonnentau und die Herbstdrehwurz, eine zierliche Orchidee mit anmutig gewundenem Blütenstand. Durch Artenhilfsmaßnahmen versuchen die Gebietsbetreuer diese Bestände zu konsolidieren. Mit Erfolg beim Sonnentau. Durch Übertragung der Samen weniger verbliebener Pflanzen auf dafür angelegte Rohbodenflächen konnte die Art auf über 500 Exemplare anwachsen. Zur Vermehrung der Herbstdrehwurz gewann Salomon das Institut für Botanik der Universität Gießen: Die ersten 50 Jungpflanzen wurden im Oktober ausgebracht. Kaum vorstellbar, daß es auch eine Pflanze gibt, die er vehement bekämpft. Das giftige Wasserkreuzkraut aber ist so eines. Die heimische Pflanzenart hat sich durch die Klimaveränderung derart stark ausgebreitet, daß sie die Heu- und Weidenutzung der Schachblumenwiesen gefährdet. „Das Wasserkreuzkraut nervt, man braucht Konsequenz, viel Geduld, und Rückschläge gibt es auch immer wieder.“
Weidetierhaltung unrentabel
Arbeit in Fülle gibt es auch auf den etwa anders gearteten Standorten von Christiane Brandt, Gebietsbetreuerin Muschelkalk beim Landschaftspflegeverband Würzburg und Landkreis Main-Spessart. Ihr Gebiet umfaßt 150 Quadratkilometer mainfränkischer Kalktrockenrasen auf Steilhängen im Main-, Wern- und Taubertal. Wir treffen sie an diesem Oktobermorgen allerdings in den dunstigen Mainauen bei Ochsenfurt, die durch eine Herde Dexterrinder dann doch mit ihrem Gebiet verlinkt sind. Die kleinen, robusten Rinder grasen in ihrem umzäunten Areal und beachten uns kaum, bis Christiane Brandt den Leitstier Findus ruft und mit trockenem Brot lockt. Der muht unwirsch und setzt sich dann kraftstrotzend behäbig in Bewegung. Die Tiere gehören Norbert Langer aus Ochsenfurt und helfen Christiane Brandt bei ihrer Arbeit. „Bei mir geht es um den Erhalt dieses besonderen Reichtums an seltenen Pflanzen- und Tierarten auf offenen Magerrasen und Saumbereichen.“ Und um diese vor der Verbuschung zu schützen, setzt sie auf Beweidung durch Ziegen, Schafe und Dexter. „Die Weidetiere haben einen weiteren Pluspunkt: Sie tragen die Samen hin und her.“ So sorgen sie für die Verbreitung meist stark gefährdeter botanischer Überlebenskünstler.
Norbert Langer stellt als Vertragsnaturschutzpartner der Unteren Naturschutzbehörde Würzburg seine rund 40 Rinder auf fünf Magerrasenstandorten auf, unter anderem im Naturschutzgebiet am Hang des Kleinochsenfurter Bergs – sehr steil und sehr malerisch von alten Weinbergmauern durchzogen. Gerade solche schwierigen Lagen rechnen sich für die Weidetierhalter nicht. Die Fördergelder gingen bereits für die Umzäunung drauf.
Wertvoller Beitrag für unser aller Überleben
Die Zusammenarbeit mit Langer ist für die Gebietsbetreuerin ein Glücksfall. Wäre Langer kein Idealist mit Hang zur Selbstausbeutung, würde er diese wertvolle, inzwischen belastende Arbeit neben seinem Fulltimejob wohl nicht stemmen. „Das vergangene Jahr war eine richtig große Herausforderung“, ist von ihm zu erfahren. Zum einen sind ihm seine drei Helfer weggebrochen, zum anderen mußte er wegen der extremen Trockenheit bereits ab Mitte Juli seinen Wintervorrat zufüttern. „Es wäre ein richtiges Drauflegejahr geworden, hätte ich jetzt nicht die Substanz reduziert und 17 Tiere schlachten lassen.“ Was ihn weitermachen läßt? „Ich halte meine Arbeit für ganz wichtig für die Biodiversität.“ Auch die „absolute Unterstützung“ Christiane Brandts bei den Behörden und Verbänden trägt dazu bei. Weitere Motivation ist, daß seine Tiere ein gutes Leben haben – und eine sehr gute Fleischqualität.
„Bei Rindern bekommt man Fleisch schon eher vermarktet, bei Schafen und Ziegen wird es schwierig“, weiß Christiane Brandt. Also hat sie sich einen weiteren Schwerpunkt gesetzt: die Weidetierproduktvermarktung. Ja, und dann sind da noch ihre speziellen Schützlinge wie der Deutsche Enzian, die Küchenschelle, die Gelbbauchunke oder das Schmetterlingshaft. „Jedes Tier hat seinen Platz im komplexen System, je mehr Arten verloren gehen, desto instabiler wird es.“
Der Aufwand sprengt ihre Vollzeitstelle, was sie durch die vollkommene Identifikation mit ihrer Arbeit verkraften kann. „Ich bin Biologin mit Haut und Haar.“ Zu Ende gedacht: ein unschätzbar wertvoller Beitrag für unser aller Überleben.