Ausgabe März / April 2022 | Stadt-Land-Fluß

STADTgespräch: Rothenburg o.d. Tauber

Zu einem Spaziergang durch das fränkische Kleinod des Mittelalters sprechen Prof. Ing. Christa Reicher, Lehrstuhl für Städtebau und ­Leiterin des Instituts für Städtebau und europäische Urbanistik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, und Prof. Dr. Joachim Vossen vom Institut für Stadt- und Regional­management, ISR, München, über den Rothenburger Weg – Wie Zukunft kommunal stattfinden kann.

Text: Prof. Dr. Joachim Vossen | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Rothenburg

Prof. Dr. Joachim Vossen: Liebe Christa Reicher, wenn der Namen Rothenburg ob der Tauber fällt, werden viele Assoziationen wach: internationale Tourismushochburg, ganzjährige Weihnachten, pittoreske Romantik, mittelalterliche Reichsstadt und vieles andere mehr. Die Stadt wird auch häufig mit der Bezeichnung „instagrammable“ charakterisiert. Das hat auf den ersten Blick nur wenig mit einem modernen Stadtbild und einer zukunftsfähigen Stadt zu tun. Welche Assoziationen haben Sie spontan, wenn Sie von Rothenburg ob der Tauber hören? Was fällt Ihnen zu fränkischen Städtebildern generell ein? 

Prof. Christa Reicher: Rothenburg ob der Tauber ist für mich der gebaute Ausdruck einer „atmosphärischen Moderne“, einer Stadt, die Vorbild und städtebauliches Leitbild um die Weiterentwicklung der Europäischen Stadt sein kann. Zugleich ruft Rothenburg bei mir auch die Assoziation einer „toskanischen Stadt in Mittelfranken“ hervor. 

Ortstermin in Rothenburg ob der Tauber
Ortstermin in Rothenburg ob der Tauber

Vossen: Beschäftigt man sich intensiver mit der Stadt, so stößt man auf die erstaunlich enge Verbindung zur englischen Gartenstadtbewegung um Raymond Unwin und Barry Parker wie die derzeitige Sonderausstellung „Rothenburg in London“ im RothenburgMuseum herausarbeitet. Hier bestand offensichtlich ein früher Einfluß auf die frühen Gartenstädte Hampstead in England und Hellerau in Dresden. Kann heute denn noch von der Idee der Gartenstadt städtebaulich gelernt werden? 

Reicher: Zwischen der Gartenstadt, die auf die Reformbewegung des Briten Ebenezer Howard und das 1898 erschienene Buch „Garden Cities of To-Morrow“ zurückgeht, bestehen offensichtliche Bezüge. Das neue Wohn- und Stadtmodell ist in der Folge von den britischen Architekten Barry Parker & Raymond Unwin in Projekten wie der ersten englischen Gartenstadt Letchworth sowie der Hampstead Garden Suburb im Norden Londons räumlich übersetzt worden. Neben der inhaltlichen Prämisse, die Qualitäten des ländlichen Lebens und der Stadt zu einer neuen Allianz zusammenzuführen, hat Camillo Sitte mit seiner Philosophie des Künstlerischen Städtebaus die räumliche Prägung der Gartenstadtbewegung unmittelbar beeinflußt. Offensichtlich sind jedoch auch strukturelle und gestalterische Anleihen aus Rothenburg vorhanden: gebogene Straßenräume, räumlich gefaßte Wohnhöfe und nicht zuletzt die Positionierung von Kirchtürmen im Zusammenspiel von Stadtplätzen. So haben Motive aus Rothenburg wie der Klingenturm mit seinem markanten Treppenaufgang, die Form des Markusturms mit seinem hohen Walmdach und die rhythmisierte Stadtmauer die Gartenstadt Hampstead unmittelbar inspiriert und beeinflußt. 

Die Ähnlichkeiten sind nicht nur offensichtlich, sondern auch wissenschaftlich durch Dokumente wie den von Raymond Unwin veröffentlichten Faltplan von Rothenburg (1909) belegt. Das mittelalterliche Rothenburg stand also schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Pate für eine Reformbewegung von internationaler Relevanz. 

Heute erfährt die Idee der Gartenstadt eine regelrechte Renaissance. Auf der Grundlage der Tagung „Gartenstadt des 21. Jahrhunderts“, die von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 2015 in Berlin durchgeführt wurde und bei der ich als Expertin mitwirken konnte, sind Leitlinien für die Planung neuer und (zu) ergänzender Stadtquartiere entwickelt worden, die unter Beweis stellen, wie relevant das Konzept der Gartenstadt im Hinblick auf aktuelle städtebauliche Entwicklungen ist. Wir waren uns einig, daß – jenseits der inhaltlichen Leitlinien – auch überzeugende räumliche Konzepte notwendig sind. In diesem Punkt kann Rothenburg viel Inspiration liefern und aufzeigen, wie die Renaissance der Gartenstadt gelingen kann. Dies beantwortet auch die eingangs gestellte Frage nach der Modernität und Zukunftsfähigkeit der Stadt.

Ein malerischer Zugriff auf Rothenburg
Ein malerischer Zugriff auf Rothenburg: Edward Harrison-Compton, Das Kobolzeller Tor, Aquarell 1908 (RothenburgMuseum)
Rothenburgs Oberbürgermeister Dr. Markus Naser
Rothenburgs Oberbürgermeister Dr. Markus Naser

Vossen: Aber ist es nicht ungemein schwierig, in einer Stadt dieser städtebaulichen Struktur die Anforderungen von Denkmalschutz, Klimaschutz und Stadtentwicklung miteinander in Einklang zu bringen? Kann Sanieren und Bauen im Bestand ein Rezept für eine klimaneutrale Zukunft sein und welche Potentiale bzw. Vorbildfunktion könnte Rothenburg in diesem Kontext haben? 

Reicher: Denkmalschutz und Klimaschutz werden viel zu oft im Hinblick auf ihre Unverträglichkeit und die scheinbaren Widersprüche diskutiert, dabei folgen sie zunächst einmal dem gleichen Grundgedanken des Erhaltens. Während der Denkmalschutz stärker die Erscheinung und die bauliche Charakteristik im Blick hat, fokussiert der Klimaschutz stärker auf die Schonung von Ressourcen und die Vermeidung von Flächenverbrauch. „Denkmalschutz ist Klimaschutz“ – diese Devise muß entsprechend in Stadtentwicklungskonzepten Berücksichtigung finden. Für Rothenburg bedeutet dies, daß Eingriffe jeglicher Art – auch energetische Maßnahmen – ein Höchstmaß an Sensibilität und Respekt vor der Qualität des Bestandes erfordern. Eine objektbezogene Sanierungsmaßnahme, ob Dämmung oder Anbringen von Kollektoren, wirkt sich nicht nur auf die Gestalt des jeweiligen Gebäudes aus, sondern beeinflußt das gesamte Stadtbild in der Nachbarschaft. Der Frage der ganzheitlichen Ökobilanz sowie der Stadtbildverträglichkeit muß Rechnung getragen werden. Rothenburg kann hier Vorbild- und Pilotfunktionen übernehmen und aufzeigen, wie man den Bestand klimaneutral sanieren und weiterbauen kann. Dabei ist ein enger Schulterschluß zwischen Planungs- und Denkmalbehörde unumgänglich. Um erhaltenswerte Bausubstanz zu sichern, ist die Erfaßung der charakteristischen Merkmale und damit auch die Expertise der Denkmalpflege erforderlich. Auf diesem Fundament können die Handlungsoptionen für Klimaschutzmaßnahmen und -anpassungen erarbeitet werden. 

Vossen: Wenn nach dem englischen Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner eine Stadtlandschaft auf Muster der naturräumlichen Gartenlandschaft zurückgreift, wie sollte nach Ihrer Ansicht das Zusammenspiel von Natur und Bau heute gestaltet sein? Kann „Rothenburg als Landschaftsgarten“ in der heutigen Diskussion um die klimaneutrale Stadt nicht sogar eine erkenntnisleitende Hypothese für Stadtplaner sein? 

Die Gäste aus Aachen und München im Gespräch mit Stadtbaudirektor Michael Knappe
Die Gäste aus Aachen und München im Gespräch mit Stadtbaudirektor Michael Knappe

Reicher: Die traditionelle Vorstellung, Landschaft sei das komplementäre Element zur Stadt, halte ich für überholt. Stadt und Landschaft sind längst nicht mehr die klassischen Gegenspieler, sondern lediglich verschiedene Ausdrucksformen der kulturellen Prägung unserer Umwelt. Damit bietet sich der Ansatz, auch Landschaft, Freiraum und Natur ganz bewußt in die Zukunftsstrategie von Rothenburg einzubeziehen nicht nur für naheliegend, sondern für ein „Muß“. Die Erkenntnis ist nicht neu: Qualitätsvolle, abwechslungsreiche und gut gestaltete Freiräume sind nicht lediglich das „nice to have“ in einer ästhetisch anspruchsvollen und ökonomisch erfolgreichen Stadt, sondern vielfach die Grundvoraussetzung, um überhaupt eine zukunftsfähige Stadtentwicklung betreiben zu können, um soziale Begegnungen zu ermöglichen und um Städte attraktiver und klimaneutral zu gestalten. 

Der Diskurs und die verschiedenen Ausstellungen zu „Rothenburg als Landschaftsgarten“ zeigen die gestalterischen Potentiale und die Einmaligkeit dieser Symbiose aus gebauter Struktur und Landschaft auf. Jetzt gilt es, insbesondere in Zeiten des Klimawandels, die ökologischen Potentiale dieses Zusammenspieles in Wert zu setzen. 

Prof. Dr. Joachim Vossen, ISR München
Prof. Dr. Joachim Vossen, ISR München

Vossen: Welche Rolle spielt dabei die heute so wichtig gewordene Forderung der Resilienz städtischer Strukturen, ein Thema, das angesichts der Coronakrise ein regelrechtes Trendwort geworden ist? Gehören Risikomanagement und Risikovorsorge mittlerweile zu den zentralen Anforderungen der Stadtentwicklung? 

Reicher: Der Entwicklung von resilienten, also widerstandsfähigen Städten kommt perspektivisch eine äußerst große Relevanz zu. Ohne Resilienz wird kein wirklicher Fortschritt in unserer Gesellschaft möglich sein. Ein gutes Konzept von „urbaner Resilienz“ basiert auf mindestens fünf Fähigkeiten: Robustheit, Flexibilität, Lernfähigkeit, Multidisziplinarität und ganzheitliche Lösungsansätze. Es muß demnach den Kriterien des Klimaschutzes und der Klimaanpassung folgen, aber auch gesellschaftliche Aspekte wie die Gestaltung von öffentlichen Räumen für alle, wie die Teilhabe der Bewohner an dem Prozeß der Weiterentwicklung der Stadt in den Blick nehmen. 

Vossen: Wie groß ist die Bedeutung der Klimakrise und der aktuellen Pandemie? Werden hier langfristig deutlich veränderte städtische Entwicklungen beschleunigt auf uns zukommen? Können nicht Kleinstädte wie Rothenburg o. d. Tauber in diesen Prozessen gegenüber größeren Städten sogar im Vorteil sein? 

Prof. Dr. Sascha Müller-Feuerstein, Präsident der Hochschule Ansbach, Prof. Dr. Vossen, Tourismusdirektor Dr. Christöphler und Oberbürgermeister Dr. Naser
Prof. Dr. Sascha Müller-Feuerstein, Präsident der Hochschule Ansbach, Prof. Dr. Vossen, Tourismusdirektor Dr. Christöphler und Oberbürgermeister Dr. Naser

Reicher: Die Corona-Pandemie hat – zumindest in der ersten Phase – die Klimakrise in den Hintergrund gedrängt. Offensichtlich ist, daß die Pandemie als Katalysator, Beschleuniger und Brennglas zugleich gewirkt hat: Die Digitalisierung – auch in Form des Online-Handels – ist beschleunigt worden. Homeoffice hat das Verhältnis zwischen Stadt und Land neu definiert und zugleich die Nachfrage nach Wohnraum in den Randzonen der Metropolen und in gut erreichbaren ländlicheren Räumen sprunghaft steigen lassen. Die Folgen für den Tourismus sind unverkennbar, denn attraktive Landschaften und Orte innerhalb Deutschlands erfahren eine größere Nachfrage. 

Letztlich wird sich das Zusammenspiel von Metropolen, die zwischendurch als unattraktiv und gar „ansteckend“ eingeschätzt wurden, und den ländlicheren Räumen nachhaltiger gestalten lassen. In der verstärkten Nachfrage nach Wohnraum in Klein- und Mittelstädten, wie es verschiedene aktuelle Studien bestätigen, liegt ein großes Potential für Rothenburg. Gerade die Symbiose aus attraktivem Stadt- und Landschaftsraum läßt sich in einer Phase der Neujustierung von Stadt und Land, von Nutzungsmischung und sozialer Infrastruktur in Wert setzen. 

Vossen: Sehen Sie für Rothenburg ob der Tauber konkrete Anknüpfungspunkte im Kontext heutiger städtebaulicher Kompetenz? Was könnten Ihrer Ansicht nach heutige Stadtplaner und Architekten von Rothenburg ob der Tauber lernen? Um 1900 war es immerhin stark in der stadtplanerischen Diskussion präsent. 

Prof. Ing. Christa Reicher, RWTH Aachen
Prof. Ing. Christa Reicher, RWTH Aachen

Reicher: Ich sehe mindestens zwei inhaltliche Stränge, bei denen der „Rothenburger Weg“, wenn er zeitgemäß interpretiert und übersetzt wird, Impulse für die Weiterentwicklung der Disziplin Städtebau generieren kann: 

Zum einen im Feld der städtebaulichen Denkmalpflege, die sich um einen stärkeren Schulterschluß zwischen den Denkmalpflegern und der Stadtentwicklung bemüht. Der Fokus liegt dabei weniger auf der Auseinandersetzung mit dem einzelnen Gebäude – ohne dessen Wert in Frage zu stellen – als vielmehr auf einer interdisziplinären Betrachtung des historischen Kontextes, die architektonische Gesichtspunkte mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten verknüpft. Rothenburg ist geradezu prädestiniert, um sich in dieser Debatte als Reallabor zu positionieren. 

Zum anderen in der bereits angesprochenen Diskussion um die Gartenstadt der Zukunft. An vielen Orten in Deutschland und in Europa, wo derzeit neue Stadtquartiere entwickelt werden oder den Bestand ergänzen, wird das Modell der Gartenstadt bemüht oder programmatisch interpretiert. Es fehlt jedoch an einer gestalterisch und räumlich überzeugenden „Übersetzung“. In diesem Kontext kann sich Rothenburg als „Best Practice“ positionieren und Impulse in diesen äußerst aktuellen Diskurs einspeisen. 

Vossen: Um hier noch einmal auf das Pittoreske, das Malerische zurückzukommen, das heute in der Wahrnehmung immer noch eng mit dem Image, der Wahrnehmung der Stadt Rothenburg verbunden ist. Gehört diese Sichtweise nicht doch in das „Museum des Städtebaus“ und verkörpert ein völlig überlebtes Konzept in der Nachfolge Camillo Sittes Werk „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ von Anno 1889? Kann eine sogenannte „malerische Architektur“ bzw. ein „malerischer Städtebau“ heute noch eine Aktualität haben und themenleitend für eine zukunftsfähige Stadt sein? 

Im Burggarten von Rothenburg ob der Tauber
Im Burggarten von Rothenburg ob der Tauber

Reicher: Der österreichische Stadtbautheoretiker Camillo Sitte mit seinen Thesen zum künstlerischen Städtebau gehört keineswegs der Vergangenheit an. 2014, also 125 Jahre nach Veröffentlichung von Sittes „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ hat ein Symposium an der TU Wien unter dem Titel „Camillo Sitte / Smart City“ stattgefunden, das explizit nach den stadtgestalterischen Fragen im Zusammenhang mit den Zukunftsthemen von Stadt gestellt hat. Mir ist als Mitwirkende an dieser Veranstaltung deutlich geworden, daß es nicht um das Entweder-Oder gehen darf, also um „Stadtbaukunst first“, sondern um ein Sowohl-Als-Auch im Sinne einer klugen Verschränkung von gesellschaftlichen Antworten, neuen Technologien, ökonomischen Impulsen und höchsten stadtgestalterischen Ambitionen. Wir müssen demnach überzeugende Antworten – weniger für einen „malerischen Städtebau“ – als vielmehr für einen „atmosphärischen Städtebau“ entwickeln, für einen Städtebau, der die Menschen stärker emotional anspricht und Lebensqualität für alle gewährleistet. 

Vossen: Der „Rothenburger Weg des Wiederaufbaus“ war nach dem Zweiten Weltkrieg ein mustergültiger Weg, das historische Stadtbild wiederherzustellen, seine Identitätsangebote für Bevölkerung wie Gäste zu wahren und dabei -historisierende Geschichtsklitterung bewußt zu vermeiden. Kann in dieser Vorgehensweise heute noch im Rahmen von Wiederaufbau-Aufgaben, wie sie bspw. ganz aktuell im Ahrtal bestehen, als ein nachahmenswertes Vorbild gesehen werden? 

Das weltberühmte Plönlein – ein ikonisches Motiv für eine deutsche mittelalterliche Stadt
Das weltberühmte Plönlein – ein ikonisches Motiv für eine deutsche mittelalterliche Stadt

Markusturm mit Innerem Röderbogen
Markusturm mit Innerem Röderbogen

Reicher: Der „Rothenburger Weg“ steht für eine ganzheitliche Vorgehensweise. Er richtet den Blick – jenseits des einzelnen Gebäudes – auf die Wirkung des Ensembles, das Stadtbild und das Zusammenspiel von Gebäude und Topographie. Alle diese Aspekte machen in der Zusammenschau die Identität der Stadt und der Stadtlandschaft aus und fördern so die Identifikation der Menschen mit ihrem Ort und ihrem Umfeld. Bei der Frage, wie die von der Flutkatastrophe betroffenen Städte und Dörfer wieder aufgebaut werden sollen, spielt die Frage der baukulturellen Identität eine wichtige Rolle. Auch wenn es an vielen Stellen zunächst einmal um die existenzielle Frage der betroffenen Menschen gehen mußte, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben und in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, müssen wir aus den planerischen Fehlern der Vergangenheit lernen. Es fehlt die Verknüpfung zwischen dem Management des kulturellen Erbes und dem Risikomanagement auf der lokalen Ebene; das hat uns die Flutkatastrophe im Sommer 2021 mit all ihren Facetten vor Augen geführt. Die Planungsinstrumente beider Bereiche – Schutz des kulturellen Erbes und Risikomanagement – beziehen sich nicht hinreichend aufeinander. Es gibt keine Formate und Prozesse der Kooperation und der Abstimmung zwischen den verschiedenen Akteursgruppen, und es fehlt schlichtweg an gemeinsamen Zielen schon innerhalb des Risikomanagements, ohne überhaupt an das Management des kulturellen Erbes zu denken. Wir müssen also verstärkt urbane Resilienz und baukulturelles Erbe zusammen denken. Denn eine resiliente Stadt oder eine resiliente Gesellschaft verfügt über eine hohe Anpassungsfähigkeit und ist in der Lage, sich an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen und sich von den negativen Folgen schnell zu erholen. Zu dem Zusammenspiel von Resilienz und kulturellem Erbe entwickeln wir gerade im Rahmen eines Forschungsprojektes einen entsprechenden Handlungsleitfaden für die Kommunen in Deutschland. Das baukulturelle Erbe wird gleichermaßen hinterfragt als Schutzgut des Risikomanagements und als Potential für urbane Resilienz. 

Den Kommunen kommt eine ganz zentrale Rolle zu, wenn es um ein integriertes Handeln und um das gemeinsame, abgestimmte Agieren von Stadtplanung, Denkmalpflege, Katastrophenschutz und weiteren Interessensgruppen geht. Sie sind also ganz wichtige Akteure im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit von (historischen) Quartieren und Städten. 

„Teufelskanzel“ am Kobolzeller Tor
„Teufelskanzel“ am Kobolzeller Tor

Vossen: Spricht man von unseren Innenstädten, so werden oft die zur Zeit dominierenden Probleme in einem Atemzug mitgenannt: zunehmende Leerstände im Einzelhandel, Trading down Effekte, Funktions- und damit Attraktivitätsverluste, Rückgang des öffentlichen Lebens etc. Sind unsere Innenstädte vor dem Hintergrund dieser Prozesse langfristig – und hier vor allem im ländlichen Raum – in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Funktion noch zu retten? Jeder sucht doch in diesem Zusammenhang nach konkreten, umsetzbaren Rezepten. 

Reicher: Das „Ende der Innenstädte, wie wir sie kannten“ ist unverkennbar eingeleitet. Dieses gilt sowohl für die kleinere Stadt im ländlichen Raum, als auch für die Innenstadt der großen Metropolen. Wir haben über viele Jahre hinweg die Innenstädte zu monofunktional auf den Einzelhandel ausgerichtet; die Folgen werden jetzt in den verödeten Fußgängerzonen und dem hohen Leerstand allgegenwärtig sichtbar. 

Patentrezepte für die Wiederbelebung der Innenstadt gibt es nicht, aber es gibt Erkenntnisse, die in den planerischen Strategien unbedingt beachtet werden sollten: so viel Nutzungsmischung wie möglich, mehr Gewerbe und Manufakturen statt Einzelhandel und die Menschen vor Ort in den Prozeß der Stadtentwicklung und -gestaltung aktiv einbeziehen. 

Schlußbemerkung: Rothenburg ob der Tauber hat in der städtebaulichen Debatte eine Art „Pole-position“: Jeder kennt die Stadt, sie zählt sogar international zu den prominentesten Städten, jeder hat malerische Bilder vor Augen, sie ist verbunden mit namenhaften Stadtplanern, Architekten und Künstlern sowie mit dem Diskurs über neue städtebauliche Leitbilder. 

In einer Phase, die durch die Pandemie und die Klimakrise geprägt ist, suchen wir hängeringend nach Orten, die im Hinblick auf die Planungspraxis und die städtebauliche Ausbildung unserer nachfolgenden Generation prädestiniert sind, um als Reallabor und Lernort zu fungieren. Diese einmalige Chance sollte sich Rothenburg nicht entgehen lassen.

Modellfähigkeit Rothenburgs
Über die Modellfähigkeit Rothenburgs diskutierten Prof. Dr. Vossen, Oberbürgermeister Dr. Naser, Prof. Ing. Reicher, Prof. Dr. Müller-Feuerstein, Dr. Christöphler und Stadtbaudirektor Knappe (von rechts)

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