Ausgabe Juli / August 2024 | Literatur

Späte Heimkehr

Würzburg feiert Yehuda Amichais 100. Geburtstag mit fünftägigem Veranstaltungsreigen

Text: Markus Mauritz
Yehuda Amichais
Yehuda Amichais. Foto: Petra Winkelhardt

Auch wer Weltliteratur schreibt, braucht ein Zuhause. Der in Würzburg geborenen hebräische Schriftstellers Yehuda Amichai (1924–2000) hatte sogar zwei davon – nämlich Würzburg zum einen und Jerusalem zum anderen. Am 3. Mai wäre Amichai, dessen Gedichte in Israel jedes Schulkind kennt, hundert Jahre alt geworden. Fünf Tage lang feierte daher seine Geburtsstadt den israelischen Nationaldichter mit Lesungen, Vorträgen, Ausstellungen, Stadtrundgängen, einem Konzert, einer Performance, einer Podiumsdiskussion und der Präsentation einer Festschrift. Veranstalter waren die „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken“, der Verein „Würzburg liest ein Buch“ und die „Leonhard-Frank-Gesellschaft“ in Kooperation mit der Stadt Würzburg.

Dem als Ludwig Pfeuffer in eine – wie er selbst schrieb – „gänzlich geborgene und vollkommene“ jüdische Welt Hineingeborenen rettete das Leben, daß er mit seiner Familie 1936 gerade noch rechtzeitig ins damalige Palästina ausreisen konnte. Seinen Kontakt zu Würzburg ließ er dennoch nicht abreißen. Er habe sich als Kind in „der schönen Stadt“ sehr wohl gefühlt: „Ich liebte die Gassen und alten Häuser“, wie es in seinem Essay „Mein Judentum“ von 1978 heißt. Ab 1959 kam er immer wieder in seine Geburtsstadt – und damit in das „Land der Täter“. Später fand er hier sogar neue Freunde, etwa den Theologen Prof. Dr. Dr. Karlheinz Müller (1936 – 2020), mit dem er viele seiner Gedichte ins Deutsche übertrug.

Yehuda Amichai mit seinem Freund, dem Theologen Prof. Dr. Dr. Karlheinz Müller (l), der viele Gedichte Amichais ins Deutsche übertrug.
Yehuda Amichai mit seinem Freund, dem Theologen Prof. Dr. Dr. Karlheinz Müller (l), der viele Gedichte Amichais ins Deutsche übertrug. Foto: Otto Grimm

Gefühl einer gespaltenen Identität

Amichais Witwe Hana Sokolov-Amichai, die gemeinsam mit ihren Kindern Emanuella und David Amichai anläßlich der Feierlichkeiten eigens aus Israel angereist war, betonte in ihrer Festrede beim Empfang im Würzburger Ratssaal: „Mir schien es immer, daß das Gefühl einer gespaltenen Identität ein existenzielles Empfinden in Amichais Leben war.“ Physisch und psychisch habe sich sein Leben in zwei Teile gespalten, nämlich in seine Geburtsstadt Würzburg und in Jerusalem, jener Stadt, in der er im Jahr 2000 starb.

Hana Sokolov-Amichai erinnerte an die vielen Generationen von Amichais Vorfahren, die in Süddeutschland gelebt hatten: „Sie verstanden sich als loyale, deutsche Bürger“, sagte sie. Amichais Vater Friedrich Pfeuffer habe am Ersten Weltkrieg teilgenommen und sei sogar mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. „Als Kind betete Amichai auf Hebräisch und hörte die deutschen Lieder aus seinem christlichen Umfeld.“ Dies habe auch seine Lyrik beeinflußt. Als Beleg zitierte Hana Sokolov-Amichai aus zwei seiner Gedichte über Jerusalem, in denen von Flüssen und Brücken die Rede ist. Dabei handele es sich eindeutig um Würzburger Ansichten, denn in Jerusalem gebe es keine Flüsse – wie jeder wisse! Im Schreiben habe Yehuda Amichai versucht, den Kreis zwischen Würzburg und Jerusalem zu schließen.

David Amichai, der bereits zum vierten Mal in Würzburg war, sagte, er fühle sich zunehmend hier zu Hause, und er spüre die Gegenwart seines Vaters. Emanuella Amichai betonte, sie habe von ihrem Vater gelernt, „zu lieben, die Tiefen und das Schöne, aber auch den Schmerz des Lebens zu sehen. Weder sie noch ihr Bruder seien Poeten geworden. Das habe Yehuda Amichai auch nie gewollt. Aber er habe ihnen beigebracht, das Leben zu genießen.

Yehuda Amichai war Lyriker – auch wenn er nicht als solcher bezeichnet werden wollte. Aber unter dem Eindruck seiner ersten Würzburg-Reise nach dem Krieg schrieb er den Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ [Lo me achschaw lo mikan], der 1963 auf Hebräisch erschien. Protagonist des Romans, der erst 1992 ins Deutsche übersetzt wurde und anläßlich des Projekts „Würzburg liest ein Buch“ 2017 eine Neuauflage erlebte, ist der Archäologe Joel. Wie viele Überlebende der Shoah wird auch Joel von den Erinnerungen an seine Jugend in Deutschland hin- und hergerissen. In zwei dicht verwobenen Erzählsträngen läßt Yehuda Amichai seine Hauptfigur zwei alternative Handlungsentwürfe nebeneinander durchleben. Die eine Version spielt in Jerusalem und führt letztlich zu dem untauglichen Versuch, die traumatischen Erlebnisse zu vergessen, der andere Weg führt nach Würzburg, das im Roman Weinburg heißt, wo Joel sich auf die Spur der einstigen Täter macht.

Amichais Witwe Hana Sokolov-Amichai (l) und die Übersetzerin Lydia Böhmer.
Amichais Witwe Hana Sokolov-Amichai (l) und die Übersetzerin Lydia Böhmer. Foto: Christian Weiß

„Ich erkenne meine Kindheit wieder“

In „Nicht von jetzt, nicht von hier“ verknüpft Yehuda Amichai seine Kindheitserinnerungen an Würzburg und die Eindrücke seiner ersten Deutschlandreise nach dem Krieg mit dem Leben im ­Israel der 1950er Jahren. „In den Werken Yehuda Amichais erkenne ich diese Stadt und meine Kindheit wieder“, sagte Dr. Josef Schuster, der in Haifa geborene und in Würzburg aufgewachsene heutige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland beim Festakt in Würzburg. Amichais Werke hätten „kein bißchen an ihrer Aktualität eingebüßt“, sagte Schuster. Im Gegenteil: Gerade jetzt, „da wir uns einer Zukunft ohne Zeitzeugen nähern“, sei die Botschaft seiner Dichtung von großer Bedeutung. Als einer der ersten Autoren habe Amichai die seelischen Probleme der Shoah-Überlebenden beschrieben, so Schuster: Israel sei zwar zu deren neuer Heimat geworden, aber die alten Wurzeln ließen sich nicht so ohne weiteres abtrennen. Zudem habe Yehuda Amichai in umgangssprachlichem Hebräisch geschrieben. Er habe eine Sprache benutzt, die die Menschen verstanden. Die Lektüre von Amichais Gedichten sei für ihn stets wie eine „Atempause“, sagte Schuster und zitierte ein bekanntes Wort von Yehuda Amichai: „Ein gutes Gedicht ist wie ein gutes Gebet. Es gibt Leute, denen es hilft, und andere, denen es nicht hilft.“

Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei seiner Ansprache anläßlich der Gedenkveranstaltung zum 100sten Geburtstag des in Würzburg geborenen Dichters Yehuda Amichai im Ratssaal der Stadt am Main.
Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei seiner Ansprache anläßlich der Gedenkveranstaltung zum 100sten Geburtstag des in Würzburg geborenen Dichters Yehuda Amichai im Ratssaal der Stadt am Main. Foto: Christian Weiß

Roman setzt historisches Denkmal

Yehuda Amichai zählt fraglos zu den Klassikern der modernen hebräischen Literatur. Seine Bücher wurden in rund vierzig Sprachen übersetzt, und immer wieder war er für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch. Aber sein Werk ist viel mehr als bloße Dichtung, wie die Münchner Historikerin Dr. Edith Raim in ihrem Vortrag im Rahmen der Würzburger Gedenkfeiern ­deutlich machte. Insbesondere in seinem Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ sei Amichai mit Blick auf die Shoah gezwungen gewesen, „auf dichterische Freiheit zu verzichten“. Da aber die deutsche Geschichtswissenschaft lange gezögert habe, sich mit „dem verbrecherischen Kern der NS-Diktatur“ auseinanderzusetzen, konnte Amichai nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen. Stattdessen setzte er auf eigene Recherchen, auf die Berichte von Zeitzeugen und von Überlebenden der Shoah, die nun entweder in Israel lebten oder im jüdischen Altenheim in Würzburg. In diesem Sinne sei der Roman auch ein Paradebeispiel für die Bedeutung der lange unterschätzten „oral history“.

Aber auch der Staat Israel selbst tat sich anfänglich schwer mit den Überlebenden der Shoah, so Edith Raim. Erst der Eichmann-Prozeß im Jahr 1961 führte „zu einer Neubewertung des Themas Holocaust in der israelischen Gesellschaft“. Die Shoah und deren Opfer wurden zur „Staatsräson Israels“, wie es Edith Raim formulierte. Dabei ließ sie nicht außer acht, daß der Antisemitismus bereits nach dem Ersten Weltkrieg spürbar wurde. Die Diskriminierung der Juden, der Boykott jüdischer Geschäfte, das November-Pogrom von 1938 und schließlich die Deportationen ab 1941 und die Shoah tauchen in Amichais Roman immer wieder auf.

Dabei verfügte Yehuda Amichai „in seiner Beschreibung der Deportationen über ein sehr differenziertes Wissen“, wie Edith Raim feststellte. Offensichtlich kannte er sowohl die einschlägigen GestapoBefehle als auch die dazu angefertigten Fotografien. Lange vor der deutschen Geschichtswissenschaft sei Amichai „von einem sehr breiten Täter- und Mittäterbegriff“ ausgegangen. „Alle“ hätten sich beteiligt oder hätten von der Deportation und der Ermordung der Juden profitiert oder durch ihr Schweigen die Verbrechen ermöglicht.

Zu den zentralen Figuren in Amichais Roman gehört das Mädchen Ruth Mannheim. Ihr Vorbild war Amichais Jugendfreundin Ruth Hanover, die wegen einer Behinderung kein Exil fand. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in den Niederlanden, bis sie 1943 ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet wurde. Als Ruth Mannheim habe ihr Yehuda Amichai in seinem Roman ein literarisches Denkmal gesetzt, so Edith Raim: „Aus ihren Briefen spricht Ruth Hanover bis heute mit ihrer eigenen Stimme zu uns.“

Yehuda Amichai im Gespräch mit dem Würzburger Journalisten Roland Flade 1981 in Jerusalem
Yehuda Amichai im Gespräch mit dem Würzburger Journalisten Roland Flade 1981 in Jerusalem. Foto: Norbert Schwarzott

Warmherzig, freundlich und sanft

Über seine „persönlichen Begegnungen mit dem wunderbaren Menschen Yehuda Amichai“ berichtete der Würzburger Journalist und Historiker Dr. Roland Flade in einem Vortrag ebenfalls im Rahmen der „Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Yehuda Amichai“. Als junger Doktorand habe er ihn 1981 in seinem Haus im Jerusalemer Stadtviertel Yemin Moshe besucht – nicht um ihn als Autor zu befragen, sondern als Zeitzeugen für seine Dissertation über das Leben von Jüdinnen und Juden in Würzburg von 1918 bis 1933.

Er sei damals erst „etwas unsicher“ gewesen, räumte Flade ein. Aber der berühmte Schriftsteller „entpuppte sich als warmherziger, freundlicher und sanfter Gastgeber“. Sie saßen auf dem Balkon mit Blick auf den Zions-Berg und einen Teil der Altstadtmauer und unterhielten sich über Amichais Kindheit in Würzburg, „über die orthodoxen Eltern, den Laden seines Vaters in der Domerschulstraße, die Gottesdienste in der Synagoge, nur ein paar Schritte vom Geschäft des Vaters entfernt, über die jüdische Volksschule hinter der Synagoge“.

Später trafen sich Roland Flade und Yehuda Amichai noch mehrmals, etwa bei Buchvorstellungen in Würzburg, bei Besuchen Amichais und seiner Familie in Unterfranken oder 1981 bei der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Würzburg. Yehuda Amichai sagte damals in seiner Dankesrede: „Vergessen ist menschlich und auch unmenschlich. Wir wollen vergessen und müssen uns erinnern. Wir wollen uns erinnern und müssen vergessen.“

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