Ausgabe Oktober / November 2023 | Soziales

Psychotherapeuten braucht das Land

Das Institut für Psychoanalyse Nürnberg-Regensburg feiert sein 35jähriges Bestehen … und die Medien ignorieren es.

Text: Gunda Krüdener-Ackermann | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Nürnberg ist die Stadt der Bratwürste und der Lebkuchen. Und Nürnberg ist auch die Stadt der Reichsparteitage und schließlich ab 1946 die Stadt der Kriegsverbrecherprozesse. Jetzt beherbergte das Grandhotel eben Prozeß-Berichterstatter aus aller Welt. Freilich wurde in dem noblen Haus schon vorher große Geschichte geschrieben. 1910 versammelte sich im Nürnberger Grandhotel die Weltelite der Psychoanalytiker und gründete die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (heute: IPA International Psychoanalytical Association).

In der Mitte zwischen den beiden großen Zentren Berlin, mit seiner Psychoanalytischen Vereinigung unter Leitung von Karl Abraham, und Wien, das mit den Mittwochs-Gesellschaften in der Wohnung von Sigmund Freud sich auf das unbekannte Terrain des menschlichen Unterbewußten vorgewagt hatte, bot sich Nürnberg dafür als Treffpunkt einfach an.

Im Mai 2023 nun konnte das Institut für Psychoanalyse Nürnberg-Regensburg auf sein 35jähriges Bestehen (nach dem Krieg) zurückblicken. Es ist eine Einrichtung, die sich nach der Trennung von der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) wieder der Tradition und den Statuten der IPA verpflichtet fühlt, „die kontinuierliche Vitalität und Entwicklung der Psychoanalyse sicherzustellen“. Vor allem geht es darum, die heute dringend benötigten Psychoanalytiker auszubilden.

Selbst die regionalen Medien haben dieses Jubiläum natürlich ignoriert, was einerseits der fränkischen Zurückhaltung geschuldet sein mag. Andererseits wird alles, was in die Nähe von „Psycho“ gerät, gemeinhin gerne verdrängt. Das verunsichert, macht Angst. Der Homo Faber gerät hier an seine Grenzen. „Reiß dich zusammen!“ gehört zu den gutgemeinten Ratschlägen, wenn einer nicht mehr aus dem Bett kommt, wenn er Angst vor Arbeit oder Studium hat. Ein gebrochenes Bein, eine fiebrige Lungenentzündung – klar, damit ist man ausgeknockt. Aber Depressionen, Angst … eigentlich alles nur eine Frage des Willens.

Die Ausbildung ist ein steiniger Weg und dauert fünf bis acht Jahre

Leider weit gefehlt! Fakt ist: Psychische Erkrankungen nehmen dramatisch zu. Man geht davon aus, daß derzeit jede dritte, wenn nicht sogar jede zweite Krankmeldung, aufgrund psychischer Probleme ausgestellt wird. Ergo: Wir brauchen mehr Therapieplätze! Viel mehr! Denn die Wartezeit für Menschen in psychischer Not beträgt derzeit circa ein Jahr. Eine Horrorvorstellung für die, die wissen, wie sich akute Seelenpein anfühlt.

Als größtes Ausbildungsinstitut in Bayern – vor München! – tut das IPNR (Institut für Psychoanalyse Nürnberg-Regensburg), was es kann, um diese Situation in Bayern zu entschärfen. Es sorgt dafür, möglichst viele Psychologen und Ärzte zu Psychoanalytikern und Tiefenpsychologen auszubilden.

Caroline Scholz-Schneider, dessen zweite Vorsitzende und Pressesprecherin, gibt einen genauen Einblick in die derzeitige Ausbildungssituation und die Versorgungslage mit Psychotherapeuten vor Ort. Die Qualifikation zum Psychologischen oder Ärztlichen Psychotherapeuten (je nach Grundstudium) ist ein steiniger Weg. Fünf bis acht Jahre lang heißt es, sich in einem ersten Ausbildungsabschnitt das Wissen über die gesamte psychoanalytische Entwicklungslehre, über Psychosomatik, Behandlungstechniken und vieles mehr anzueignen.

Danach der praktische Teil. Unter Supervision von Lehranalytikern behandeln die Ausbildungskandidaten ihre ersten eigenen Patienten. Diese sind zuvor mit ihrer Problematik in der Ambulanz des IPNR vorstellig geworden, werden in einem ersten Schritt von Profis begutachtet und dann an die einzelnen Kandidaten weitervermittelt. Ganz am Ende der Ausbildung dann die staatliche Approbation. In den 35 Jahren seit Bestehen des IPNR sind für Bayern auf diese Weise rund 150 approbierte Therapeuten ins Berufsleben entlassen worden. Jeder von ihnen wird dringend gebraucht. Theoretisch. Aber die Praxis sieht etwas anders aus. Denn laut Aussagen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ist der Bedarf an Psychoanalytikern etwa für die Metropolregion Nürnberg bestens gedeckt. Also werden derzeit keine neuen Praxissitze zugelassen. Wenn die Berufsneulinge Glück haben, kommen sie in einer Klinik unter oder ergattern einen der begehrten „Alt-Sitze“.

Narrenschiffbrunnen in Nürnberg – eine Arbeit des 2007 verstorbenen Bildhauers Jürgen Weber
Narrenschiffbrunnen in Nürnberg – eine Arbeit des 2007 verstorbenen Bildhauers Jürgen Weber. Narrenschiffe sollen im Mittelalter schwimmende Irrenhäuser gewesen sein, da es in den Städten bis auf vereinzelte Narrentürme keinen Platz für Narren gegeben habe.

Versprachlichung der eigenen Gefühle

Caroline Scholz-Schneider beurteilt die Lage anders als die KV. Jede psychoanalytische Praxis hat ein vorgegebenes Minimum an Patienten zu versorgen. Muß der Therapeut allerdings seine Stunden reduzieren, etwa aus persönlichen Gründen, interpretiert die KV das als Mangel an Bedarf. Verwundert reibt man sich die Augen. Ja, Therapien sind auf den ersten Blick teuer, und Geld ist zu sparen! – Aber wie rechnet denn die KV? Es ist doch derselbe Geldtopf, aus dem die immensen Kosten zum Beispiel für monatelang arbeitsunfähige Burn-out-Patienten zu zahlen sind. Wäre es da, mal ganz abgesehen vom Leid der Patienten, nicht sinnvoller einer Chronifizierung psychischer Erkrankungen durch schnelle professionelle Therapie entgegenzuwirken? Leider sind psychische Erkrankungen in der Regel langwierig. Aber können bei nüchterner Kosten-Nutzen-Rechnung da wirklich die Ausgaben für bis zu vier Jahre Heilbehandlung schrecken, wenn das Ergebnis nachweislich in den meisten Fällen eine Rückkehr ins einigermaßen normale Leben bedeutet?

Und es bleiben elementare Fragen offen: Warum steigt die Anzahl psychischer Erkrankungen so dramatisch an und wie hat sich deren Ausprägung im Laufe der Zeit verändert? Auch die Fachfrau Scholz-Schneider blickt in den rund vier Jahrzehnten ihrer Berufspraxis auf ein sich veränderndes Krankheitsbild zurück. Zentral waren früher Neurosen, bei denen Patienten meist noch zum Ausdruck bringen konnten „das fühlt sich an, als ob ich falle…, als ob ich versage…“ Dazu aber muß man zur Versprachlichung seiner Gefühle fähig sein. Die meisten früheren Patienten erreichten noch ein Strukturniveau, das es ihnen erlaubte, ihre Ängste relativ konkret zu benennen. Heute sind es meist frei flottierende Ängste, die einen oft scheinbar plötzlich packen und nicht mehr loslassen. Sei es als Panikattacke vor der Supermarktkasse, sei es als Antriebslosigkeit, sei es als Angst vor Prüfungen oder den Herausforderungen der Arbeitswelt. Daß das so ist, dafür ist es hilfreich, einige Aspekt unseres modernen Alltags näher in Augenschein zu nehmen, so Scholz-Schneider.

Eine Gans als Geschenk

Zum einen ist da die Zunahme früher kindlicher Störungen. Bei vielen Eltern ist ein Verlust von intuitiven Fähigkeiten festzustellen, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erspüren. Oft sind die gebeutelt von Verunsicherung und Überforderung. Ist das Kind jetzt wirklich satt? Warum weint mein Baby so oft? Schnell der Griff zum Telefon und Fragen dazu an die Hebamme, den Kinderarzt – an die Experten – oder der Blick in einen der unzähligen Erziehungsratgeber. Später dann häufig eine Überforderung der Kinder. Stets sollen die sich – oh, wie schön – völlig frei entscheiden, zwischen Dreirad oder Roller, zwischen Grießbrei oder Spaghetti, zwischen „willst du zu Mama oder zu Papa?“… Das überfordert Kinder. Nurmehr wenige Eltern wagen es aus Angst vor dem Gespenst der „schwarzen Pädagogik“, im positiven Sinne Halt gebend autoritär zu sein. Und über all dem schwebt unbarmherzig das Projekt: Mein Kind muß gelingen. Musikalische Frühförderung, Ballett, spielerisches Erlernen von Sprachen … Aber was will das Kind selbst? Vielleicht nur spielen!

Hinzu kommt die Vereinsamung und Überforderung von Kindern und Jugendlichen in der sie umgebenden digitalen Welt. Kurzes Fazit: Würde es von früh an gelingen, daß Eltern ihre Kinder nur responsiv begleiten, ihnen etwas zutrauen (ja, die Helikopter-Eltern sind Gift für die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls!), ihnen Geborgenheit vermitteln, dann wäre viel gewonnen für eine zukünftige psychische Stabilität – unverzichtbares Rüstzeug für ein gelingendes Leben. Später dann überfordern die schier unendlichen Möglichkeiten der zukünftigen Berufswahl viele junge Menschen. Nein, keiner will die Zeiten zurück, als der Vater sich ungefragt seinen Sohn schnappte und mit dem „Argument“ einer Gans als Geschenk dem ortansässigen Schuster den Buben als neuen Lehrling aufschwatzte. Aber ständig die Angst im Nacken, nicht die richtigen Weichen (ja welche denn?) für die eigene Zukunft zu stellen, ist für junge Menschen oft eine schwere Hypothek.

Jeder ist selbst schuld

Und dann noch der Blick in die Erwachsenenwelt. Wir alle leben im Zeitalter der Selbstoptimierung. Jeder kann schlank sein, ja, jeder ist selbst schuld, wenn er nicht fit, nicht glücklich ist. Hol raus, was in dir steckt! Auf der anderen Seite schlägt die Arbeitswelt im wahrsten Sinne des Wortes Kapital aus dieser Selbstausbeutung. Denn was im Privaten funktioniert, taugt auch in der Berufswelt. Bei offiziell gesunkenen Arbeitsstunden wird die berufliche Belastung immer drückender, schleichender. Homeoffice zum Beispiel. Freie Zeiteinteilung. Beruf und Familie sind optimal vereinbar. Wenn aber die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben immer mehr verwischen, wenn der Chef nach 21 Uhr oder am Wochenende noch anruft, wenn die Arbeit wie ein Damoklesschwert dauernd bedrohlich über einem schwebt. Ganz zu schweigen von all den neuen Aufgabenbereichen, die sich in gewohnte Arbeitsprozesse einschleichen. Der Lehrer etwa, der eigentlich mal Germanistik und Anglistik studiert hat, muß jetzt, während seine Klasse lauthals fröhliche Urstände feiert, das digitale Klassenzimmer zum Funktio­nieren bringen, Schüler unterschiedlichster Sprachen und Lernniveaus gemeinsam unterrichten, dazu manche noch inkludieren … Für nichts davon wurde er in der Regel ausgebildet. Und im Heer der Angestellten haben viele keinen persönlichen Arbeitsplatz mehr, sondern machen „Desk-Hopping“, den Laptop unter dem Arm geht es von einer Arbeitsgruppe zur nächsten … Das entwurzelt, macht konfus.

Der Beispiele gäbe es noch unendlich viele. Der derzeit viel bejammerte Arbeitskräftemangel wird uns in nicht allzu ferner Zukunft auf die Füße fallen. Ob es sich dann eine KV noch leisten kann, psychisch Überlastete ohne Therapie im Krankenstand monatelang vor sich hindümpeln zu lassen, ist fraglich. Insofern ist es schon mal ein Lichtblick, daß das Institut für Psychoanalyse Nürnberg-Regensburg von all dem Ungemach weitgehend unbeeindruckt weitermacht und unermüdlich neue Psychoanalytiker ausbildet, die nicht nur Bayern dringend braucht.

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