Nachruf auf Barbara Stamm
Ein Leben für die Schwachen der Gesellschaft
Text: Florian Hiller | Fotos: Rolf Poss
An meine Kindheit habe ich keine Erinnerung.“ Im ersten Augenblick kommt dieser Satz, den die am 5. Oktober verstorbene frühere Landtagspräsidentin Barbara Stamm einmal über sich selbst sagte, recht harmlos um die Ecke. Man ist fast geneigt zu denken: „Wer keine Erinnerungen an seine Kindheit hat, der hat auch keine schlechten.“ Doch schon der zweite Gedanke läßt einen schaudern. Keine Erinnerung an die Kindheit. All die schönen Andenken hatte sie nicht. All die Gerüche, Geschmäcker, Lieder und die selbst ausgedachten Spiele. Wer kennt es nicht, man betritt den Festplatz auf einer Kirchweih, hört einen Drehorgelspieler und der Geruch von gebrannten Mandeln steigt einem in die Nase. Sofort fühlt man sich in sein Kindesalter zurückversetzt. Zumindest soweit man eben eine schöne Kindheit hatte.
Vielleicht ist es genau dieser Umstand, die Tatsache, daß Barbara Stamm keine unbeschwerte Kinderjahre genießen konnte, die sie zu einer so hartnäckigen und streitbaren Kämpferin für die Schwächeren – vor allem auch für Kinder – werden ließ. Als Tochter einer gehörlosen Mutter kam sie früh in eine Pflegefamilie, aus der sie jedoch schon bald wieder herausgerissen wurde und zur leiblichen Mutter nach Bamberg zurückkam. Doch auch dort kam sie nie wirklich richtig an.
Ihr Leben begann erst mit der Ausbildung zur Erzieherin (damals noch Kinderpflegerin) in Gemünden. So formulierte es Stamm einmal. Ein sozialer Beruf, diesem Metier blieb sie – erst als Erzieherin und später als Politikerin – treu. Ehrenamtlich engagierte sie sich ebenfalls bei unzähligen Institutionen: Lebenshilfe, Caritas, das Bistum Würzburg, um nur einige zu nennen. Nicht umsonst bekam sie inoffiziell den Titel „das soziale Gewissen Bayerns“.
Stamm setzte sich auf allen Ebenen und in jeder der vielen Funktionen, die sie im Laufe ihres Lebens innehatte, für das Wohl der Menschen ein. Um die Probleme der Leute zu erkennen, war es ihr immer ein Anliegen, sich mit ihnen zu umgeben. Und das tat Stamm unheimlich gerne. Nicht nur bei politischen Veranstaltungen, sondern auch im privaten Bereich. Besonders schätzte sie eine gepflegte Partie Schafkopf mit Freunden oder im Kreis der Familie – quasi am „Stamm-Tisch“. Aber auch die fränkische Fastnacht hatte es ihr angetan. Die Auftritte bei der „Fastnacht in Franken“ in Veitshöchheim im blauen Kleid erreichten – nicht zuletzt wegen der „Gebrüder Narr“ – Kultstatus. Sie liebte die Leute und die Leute liebten sie.
Stamm war in den Siebzigern schon das, was man heute gemeinhin als „Powerfrau“ bezeichnen würde. Ein Vorbild für ganze Generationen von Frauen. Karriere im Beruf, Karriere in der Politik, Ehefrau, Mutter. Sie hat all das geschafft. Ob das nun an einer – wie man heute sagen würde – hervorragenden „Work-Life-Balance“ lag, oder vielleicht einfach daran, daß Stamm geliebt hat, was sie tat, spielt letztlich keine Rolle.
Sie hat nicht nur eine große Karriere hingelegt, sondern auch Historisches erreicht. Als erste Frau im Bayerischen Landtag übte sie das Amt der Landtagspräsidentin aus. Eine Frau. In Bayern. In der CSU – das klingt fast schon nach Science-Fiction, aber sie hat es geschafft – ohne Frauenquote.
Mit ihrem Tod verliert Bayern eine starke Frau. „Soziales Gewissen“, „Mutter Bayerns“, „Kämpferin für die Schwachen“, die Liste der Namen ließe sich beliebig fortführen. Was sie aber von vielen Politikern unterschied, war, daß sie parteiübergreifend geschätzt wurde. Ging es ihr um eine Sache, hatte sie auch keine Probleme damit, offen und ohne Vorurteile auf andere zuzugehen. Auch auf das andere politische Lager. Vielleicht ist es gerade diese Eigenschaft – dieser Charakterzug – den wir auf Dauer am meisten vermissen werden. Mehr noch, als die leidenschaftliche Streiterin der Schlechtergestellten in der Gesellschaft.
Einer, der Barbara Stamm sehr gut persönlich kannte und schätzte, ist der unterfränkische Bezirkstagspräsident Erwin Dotzel.
„Besonders beeindruckt hat mich immer ihr unerschütterlicher Einsatz für die Menschen – gerade für die Schwächeren der Gesellschaft. Hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, ließ sie so lange nicht davon ab, bis sie ihr Ziel erreicht hatte, oder zumindest, daß darüber gesprochen wurde. Und dabei hatte sie auch den Weitblick und die Größe, über Parteigrenzen hinwegzusehen. Ihr lag das Wohl der Menschen eben wirklich am Herzen. Neben ihrem Engagement für die Benachteiligten der Gesellschaft, bin ich ihr vor allem für ihren unermüdlichen Einsatz zur Förderung von Frauen in der Politik dankbar – gerade auch in Führungspositionen. Ich werde sie als großartige Politikerin, als Kämpferin für Menschen mit Handicap – vor allem aber auch als Mensch vermissen und immer in bester Erinnerung behalten.“