Musik für die Seele im Tal der Rodach
Im Mississippi-Delta, wo der Blues herstammt, reicht oft schon ein Waschzuber-Bass mit einer einzigen Saite für ein großartiges Konzert. Auch in Europa liefern Cigar-Box-Guitars immer öfter den Soundtrack zur Zeitenwende. Besuch im oberfränkischen Seßlach bei einem, der nicht nur alte Zigarrenkisten zum Klingen bringt.
Text: Markus Mauritz | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Frank Hebing ist in seinem Element. Er hockt auf einem halbhohen Stuhl. An den Wänden hängen Gitarren, aufgereiht wie in einem Musikalienladen. Gerade hat er nach einem seiner Instrumente gegriffen, und noch während er die Saiten stimmt, erkennt man schon das erste Riff. Der Rhythmus wandelt sich nahtlos in einen Blues. Mit glasklarer Präzision trifft der Klang ein bestimmtes Gefühl, das sich mit Worten nicht beschreiben ließe. Ein Fingerschnippen, und Empfindung wird zu Klang.
Musik ist für die Seele. Musik ist für Verliebte und Verlassene, für Glückliche und für die, die längst resigniert haben. Musik braucht Emotion und Leidenschaft. Teure Instrumente braucht sie nicht – jedenfalls nicht unbedingt. Im Mississippi-Delta, wo der Blues herkommt, reichen oft schon ein Waschzuber-Bass mit einer einzigen Saite, dazu die Kronkorken einer alten Cola-Flasche, wie sie sich John Lee Hooker an die Schuhsohlen nagelte, um damit den Rhythmus zu klappern, und vielleicht eine Cigar-Box-Guitar, eine Gitarre mit einer leeren Zigarrenkiste als Resonanzkörper.
Diese Erfahrung hat auch Frank Hebing vor geraumer Zeit gemacht. Der Mitfünfziger stammt eigentlich aus dem Münsterland. Seit rund zehn Jahren lebt er in der Nähe von Seßlach (Landkreis Coburg), einer abgeschiedenen Gegend im Tal der Rodach, fast so menschenleer wie das Mississippi-Delta. Mit Gitarren habe er sich schon als Teenie beschäftigt, erzählt er mit Blick auf seine Sammlung.
Damals stand mehr der Punk bei ihm im Vordergrund, und anfangs ging es ihm nur ums Reparieren von Instrumenten. Irgendwann kam er auf den Geschmack, leere Zigarrenkistchen, alte Weinkästen, ausgediente Kuchenformen oder aufgebrauchte Filmdosen zu verbauen.
Maßgeschneiderte Müll-Instrumente
In seiner Werkstatt unterm Dach stapelt sich all das Material, das er noch zum Klingen bringen will und das dann auf irgendeiner Jam-Session für große Augen sorgen wird – und vor allem für gespitzte Ohren: bunt bedruckte Kistchen mit Aufschriften wie Cohiba, Rinas, Wappenkrone, Villinger, 25 Coronas und dem gut gemeinten Hinweis: „Rauchen ist tödlich.“ Daneben finden sich in seinem Depot auch Radkappen – natürlich von Fahrzeugen der mobilen Oberklasse – oder teuflisch-ordinäre Mistgabeln. „Geht nicht, gibt’s bei mir nicht“, sagt Frank Hebing, als er den skeptischen Blick bemerkt. „Aber natürlich brauchen diese Instrumente einen elektrischen Tonabnehmer“, räumt er ein. Aus den Regalen an der Wand ragen Dachlatten, Holzplanken, alte Zaunpfosten. Daraus lassen sich Griffbretter, Gitarrenhälse, Stege und Köpfe schreinern.
Frank Hebings fantastische Müll-Instrumente kann man bei ihm kaufen, man kann sie unter seiner Anleitung selbst basteln, man kann sie sich aber auch nach den eigenen Vorstellungen von ihm bauen lassen – gewissermaßen: maßschneidern. Der Poet und selbsterklärte Allroundkünstler Wolfgang Ramadan aus dem oberbayerischen Icking zum Beispiel wünschte sich eine Gitarre aus einem leeren Benzinkanister. Die besondere Herausforderung: Ramadan ist Jahrgang 1960, und so alt sollte auch der Kraftstoffbehälter sein. „Geht nicht, gibt’s bei mir nicht“, wiederholt Frank Hebing seinen Wahlspruch, als er das neue Instrument auf dem Wohnzimmertisch präsentiert. Wuchtig sieht es aus, olivgrün lackiert, mit jeder Menge elektronischem Schnickschnack. Wolfgang Ramadan wird Augen machen, wenn er dieses Schmuckstück demnächst in Empfang nimmt.
Cigar-Box-Guitar aus Zedernholz
Vor allem im Süden der USA spürten die Menschen zwar immer schon den Blues, jenes ureigene Lebensgefühl, das sich so wunderbar in Musik ausdrücken läßt, aber sie hatten oft nicht das Geld für kostbare Musikinstrumente. Brauchten sie auch nicht. Für das Zwölftaktschema und eine vom schweren Rhythmus geprägte Musik genügen oft schon Instrumente Marke Eigenbau. Den Beweis dafür liefert Frank Hebing mit jeder seiner Gitarren, die er in die Hand nimmt. Seine Licks klingen unkompliziert, seine Phrasen sind locker, gerade so, als surfe er auf dem Kamm der perfekten Welle. Es ist unüberhörbar, da sitzt einer, der mit sich und der Welt im Reinen ist.
Die ersten selbstgebastelten Zigarrenkisten-Gitarren dürften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sein, denn vorher war es noch nicht üblich, die teuren Tabakprodukte in eigens dafür hergestellte Kistchen zu verpacken. Belege für die frühen Exemplare dieser einfachen Musikinstrumente sind unter anderem ein Foto aus dem amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, das einen Nordstaaten-Soldaten mit einer Zigarrenkisten-Fidel zeigt, sowie eine im Jahr 1890 in einem Pfadfinder-Handbuch veröffentlichte Bauanleitung für ein Zigarrenkisten-Banjo.
Wo die Kreativität den Ton angibt, braucht es keine strengen Regeln. Das ist beim Bau einer Cigar-Box-Guitar nicht anders. Praktischerweise besteht sie allerdings, wie jede andere Gitarre auch, aus einem Kopf, an dessen Ende sich nicht unbedingt die Stimmwirbel befinden, einem Hals, der auch ohne Griffbrett und Bünde auskommen kann, und natürlich dem Resonanzkörper, für die Frank Hebing alles mögliche verwendet. Bei den Klassikern kommen aber nur Zigarrenkisten in Frage – am besten aus Zedernholz, weil es den Tabak nachreifen läßt und das Austrocknen verhindert.
Wer so virtuos die Blues-Phrasen biegen kann …
Die alten Zigarrenkisten-Gitarren verfügten zumeist nur über ein oder zwei Saiten, heute sind es in der Regel drei, manchmal auch mehr. Bei einer offenen Stimmung, bei der die nicht gegriffenen Saiten einen einfachen Akkord bilden, ist dies völlig ausreichend und ideal für das Spiel mit einem Bottleneck, das auch Frank Hebing meisterhaft beherrscht. Früher benutzten die Musiker dafür einen abgeschlagenen Flaschenhals, heute sind spezielle Glas- oder Metallröhrchen überall erhältlich, die über einen Finger der Greifhand gesteckt werden. Der Sound, der bei diesem sogenannten Slide-Spiel entsteht, klingt nach Voodoo-Zauber, und er ist schwer, wie Dieselqualm, vor allem, wenn dann noch ein Bassist im Hintergrund den Rhythmus mit Macht vorwärtstreibt.
Etliche der ganz Großen im Musikgeschäft starteten ihre Karrieren mit selbstgebauten Musikinstrumenten: Blind Willie Johnson zum Beispiel, dem die Stiefmutter als Kind Lauge ins Gesicht geschüttet hatte, Lightin‘ Hopkins, der eigentlich Sam Hopkins hieß, oder Charlie Christian, der später zu den Pionieren der elektrisch verstärkten Jazzgitarre zählte, aber auch Carl Perkins, von dem der Rockabilly-Klassiker „Blue Suede Shoes“ stammt, und angeblich sogar der unsterbliche Jimi Hendrix, dessen Cigar-Box-Guitar Saiten aus Gummi gehabt haben soll. Auch Frank Hebing hätte das Zeug zum Profimusiker. Wer so virtuos die Blues-Phrasen biegen kann, wer in dem schleppenden Rhythmus immer wieder neue Ideen erfindet, der würde auf jeder Konzertbühne bestehen. Aber Frank Hebing ist halt nicht der wilde Hund, um sich im harten Musik-Business durchzubeißen. Zur Begrüßung hat er sich zwar eine Schiebermütze verwegen in die Stirn gezogen und eine Wayfarer-Sonnenbrille aufgesetzt, wie man sie vor allem von alternden Rockstars kennt, aber im bürgerlichen Beruf arbeitet er lieber als Sozialarbeiter. Er ist Werkpädagoge in einer Behinderteneinrichtung. Und das ist er ganz offensichtlich mit Begeisterung.
Blues ist wie gute Medizin
Musik spielt er aber regelmäßig mit ein paar Freunden, zwei Gitarristen und zwei Bassisten. Das Quintett verbindet eine Art Wahlverwandtschaft. „Einer gibt die Tonart vor oder einen Akkord, und die anderen folgen. Das ist dann wie eine Therapie“, schwärmt Frank Hebing von den häuslichen Sessions und denkt dabei vielleicht an Memphis Slim, für den Blues wie gute Medizin war. „Wenn du es aus dir herausgesungen hast, geht es dir besser!“ Blues hat eben nicht unbedingt etwas mit Melancholie zu tun, wie man aus dem englischen Slang-Ausdruck „blue“ herauszulesen meint, wohl aber stets mit der Lebenswirklichkeit des Blues-Musikers, mit Liebe, Leid, Trauer, mit Ärger im Job und der Sehnsucht nach dem entspannten Leben „drunten im Süden“.
Ihre erste Renaissance erlebten selbstgebaute Musikinstrumente aus Zigarrenkisten in den 1930er Jahren in den USA während der Weltwirtschaftskrise. Daß sie ausgerechnet jetzt auch in Europa ein so mächtiges Revival erleben, liegt wohl weniger an der ökonomischen Lage als mehr an einem neuen Trend zurück zu den Wurzeln. Frank Hebing beobachtet schon länger, daß sogenanntes Upcycling immer mehr Freunde findet. „Materialien, die früher schon ein Leben hatten, besitzen eben einen ganz eigenen Reiz“, so Frank Hebing. Und überhaupt: „Es nervt einfach, wenn nur mehr konsumiert, und nichts mehr repariert wird!“ Wiederverwertung sei ein gesellschaftlicher Trend. In den USA sprechen die Szene-Insider seit einigen Jahren gar von der „Cigar-Box-Guitar-Revolution“.
Ursprünglich nur für den Einsatz als Akustikinstrument gedacht, klingen die Zigarrenkisten-Gitarren relativ leise – oder mit einem alten Spaten als Corpus auch gar nicht! Ausgerüstet mit einem elektrischen Tonabnehmer sind natürlich auch spezielle Effekte möglich – selbst Halls, Echos oder Phaser. Und irgendwie scheinen die derben Musikinstrumente mit ihrem Used-Look in unsere Zeit zu passen. Der rohe, ungeschliffene Sound der Cigar-Box-Guitars ist offenbar die perfekte Tonspur für die Rückkehr aus der digitalisierten Musik in die Welt der echten Töne und wahren Rhythmen.