Kronenfauna im grünen Bereich
Finden heimische Insekten exotische Stadtklimabäume attraktiv? Das untersuchen derzeit Forscher der Universität Würzburg und der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau.
Text: Sabine Haubner | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Früher klebten sie zuhauf an der Windschutzscheibe, unangenehm und sichtbehindernd. Seit Jahren ist die Pkw-Front frei von Insekten und liefert den traurigen Befund: Der Schwund der Schwebenden und Krabbelnden ist eklatant vorangeschritten. Das Thema Insektensterben hat inzwischen seinen ersten Schlagzeilenpeak überschritten und treibt in breitem Basisengagement für bedrohte Fluginsekten bunte Blüten: etwa mit pollenreichen Blumenmischungen für den Hausgarten oder dem erfolgreichsten Volksbegehren der bayerischen Freistaatsgeschichte.
Überraschenderweise sind gerade in den Städten die Lebensbedingungen für Hummeln und Wildbienen gar nicht so schlecht. Das belegte im vergangenen Jahr eine Studie von Biodiversitätsforschern mitteldeutscher Universitäten. Sie hatten das Aufkommen auf blütenreichen Flächen neun deutscher Großstädte, in Parks und botanischen Gärten, mit dem ihres ländlichen Umlandes verglichen.
Urbane Arche
Die Stadt als Arche bedrohter Insektenarten? Das gilt vor allem für die Ordnung der Hautflügler, und nur unter der Bedingung, daß genügend blütendurchsetztes Grün die Stein- und Asphaltwüsten aufbricht. Sie leisten in der artenreichsten Tierklasse unseres Planeten die für den Menschen enorm wichtige Aufgabe der Pflanzenbestäubung.
Zahlreiche andere Verwandte tummeln sich eher unbeachtet in einem anderen urbanen Lebensraum, in den Kronen der Stadtbäume. Diesen untersucht derzeit eine Forschergruppe der Universität Würzburg im Rahmen des Langzeitprojekts „Stadtgrün 2021” der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG). Es nimmt seit 2009 die Stadtbäume in den Blick unter dem Aspekt, wie sie mit den extremen Belastungen des rasanten Klimawandels zurechtkommen. Lange Trockenperioden, Spitzentemperaturen und hohe UV-Strahlung – dieser Stress wird durch den Wärmeinseleffekt der Stadt noch mal getoppt. Heimische Stadtbaumarten, eigentlich Arten des Waldes, kommen hier immer mehr an ihr Limit, wie Projektleiterin Dr. Susanne Böll besorgt beobachtet. „Manche sind schon drüber wie der Bergahorn, der früher ein gängiger Stadtbaum war.“
Im Würzburger Steinbachtal ist die Lage „besonders gravierend“, weiß Georg Schönmüller, Leiter des Stadtforstes Würzburg. Im bewaldeten Seitental des Mains stellten die Fichten vor zehn Jahren noch zehn Prozent des Baumbestandes. „Heute gibt es dort keine mehr.“ Auch bei den Laubbäumen verzeichnet Schönmüller erhebliche Schäden.
Nach zukunftsträchtigen Alternativen schauen Dr. Böll und ihr Team aus. Sie greifen auf überwiegend kontinentale Arten zurück, die mit Trockenheit und Hitze besser zurechtkommen, aber auch Frosttemperaturen standhalten. 30 Kandidaten scheinen vielversprechend und werden an den drei klimatisch sehr unterschiedlichen bayerischen Standorten Würzburg, Hof/Mönchberg und Kempten auf ihre Eignung untersucht. Das Projekt findet deutschlandweit Beachtung. Ständig rufen Kommunen beim Stadtgrün-2021-Team an und fragen nach Standortempfehlungen. „Würzburg ist eine der trockenheißesten Städte in Deutschland“, weiß Dr. Böll. Gilt Unterfranken schon als Klima-Hotspot, so heizt die Kessellage der Mainmetropole noch zusätzlich ein. Allein die Anzahl der Hitzetage mit über 30 Grad Celsius in den vergangenen Jahren wirft ein Schlaglicht auf die weitere Klimaentwicklung: 2018 waren es rekordverdächtige 36, allerdings am Rande der Weinberge gemessen. In der Stadtmitte dokumentierte Christian Hartmann, Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, mit 50 erheblich mehr.
Artenarme Exoten?
Würzburg eignet sich damit als Härtetest-Standort für die sogenannten Stadtklimabäume. Hier wird auch ihr ökologischer Wert untersucht. Bislang war unklar, ob Bäume aus Südosteuropa, Asien und Nordamerika eine vergleichbare Artenvielfalt und Anzahl an Insekten bieten wie herkömmliche Stadtbaumarten. Ein sehr heißes Thema, wie Susanne Böll bei Vorträgen und in Gesprächen erfahren hat. „Es gibt immer Leute, die behaupten, daß fremdländische Arten nicht für unsere Heimat geeignet seien.“ Auch von Naturschutzseite habe es immer wieder Einwände gegen die „Exoten“ gegeben, wegen mangelnder Artenvielfalt. „Mir wurde schon gesagt, daß ich ökologische Wüsten gepflanzt habe.“ Die Angst vor invasiven Arten ist da wohl auch im Spiel.
Eine begründete Skepsis? Dr. Böll recherchierte die Datenlage zu dem Thema und fand – nichts. Also beschloß sie, die erste vergleichende Studie zur Artenvielfalt von Insekten und Spinnen in den Baumkronen heimischer Stadtbäume und deren kontinentaler Schwesternarten anzustoßen. Die Untersuchungen wurden 2017 in Kooperation mit Dr. Dieter Mahsberg von der Universität Würzburg, Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie, im Rahmen einer Masterarbeit durchgeführt. Biologiestudentin Rosa Albrecht stieg während der Vegetationsperiode alle zwei Wochen in die oberste Etage von insgesamt 30 Versuchsbäumen, um in neun Metern Höhe Fallen zu wechseln und Insekten durch Klopfen von den Ästen zu lösen. Drei Baumartenpaare, bestehend aus der heimischen Winterlinde, der Gemeinen Esche, der Hainbuche und ihrer südosteuropäischen Verwandten, wurden auf ihre Insektenarten abgescannt. Die Auswertung war überraschend: „Sowohl in der Artenvielfalt als auch in der Biodiversität – Verteilung der Arten und Individuenreichtum – gab es keinen Unterschied zwischen den heimischen und ihren Schwesternarten“, faßt Dr. Böll das Ergebnis zusammen. Auch die Rote-Liste-Arten waren ähnlich stark vertreten. Das verlangte geradezu nach einer Ausweitung der Artenauswahl. „Wir wollten wissen, ob das bei den exotischeren Baumarten auch so ist“, etwa beim Amberbaum. „Der hat keine europäischen Verwandten. Das wird spannend.“ In seiner Heimat Nordamerika besticht der Indian-summer-Protagonist durch eine spektakuläre rote Herbstfärbung. Dr. Böll überzeugt er durch weitere Qualitäten: „Er hat eine interessante Borke mit Lufteinschlüssen“, und damit eine gute Dämmung bei Wärme und Kälte.
Hauptsache Erle
Was er den Insekten zu bieten hat, wird beim zweiten Fallenwechsel des Jahres Anfang Mai von einem Master- und zwei Bachelorstudenten im Gewerbegebiet Würzburg Ost geprüft. Ihre Arbeiten werden von Dr. Marcell Peters vom Biozentrum der JMU betreut. An diesem Tag haben sie auch die Kronen von Ungarischen Eichen und Asiatischen Purpurerlen im Visier. Jean-Léonard Stör und Leonie Feik tauchen mit Hilfe des Hubsteigers in die Kronenzone ein, nehmen die großen Fensterfallen für Fluginsekten ab, tauschen sie durch frische aus und klopfen rhythmisch an Äste und Zweige: Darunter aufgespannte Stoffschirm fangen purzelnde Larven und Spinnen auf.
Masterstudent Paul Geisendörfer hat Bodendienst an einer Purpurerle. Er sichert die Ausbeute der Fensterfallen und hält in der Hand einen Erlenblattkäfer. „Erle egal, ob heimisch oder nicht, wird angenommen“, kommentiert Dr. Böll das Exemplar. Die asiatische Erlenart überraschte noch mit einem anderen Fund: die auffällige, weiß-rot gestreifte Raupe einer Erlen-Pfeileule, eines in Bayern gefährdeten Nachtfalters. Gefreut haben sich die Biologen noch über eine andere Rote-Liste-Art: Arenocoris waltii, eine sehr seltene Lederwanzenart, die in Bayern lange als verschollen galt.
Auch wenn erste Daten der aufwendigen Auswertungen frühestens Ende September vorliegen werden, bis dann läuft das Monitoring, kann Projektbetreuer Marcell Peters schon jetzt feststellen: „Wir finden eine erstaunliche Vielfalt an Bienen, Hummeln und anderen Insekten in den Bäumen.“ Darunter auch Besonderheiten wie die Kleine Furchenbiene. Eine Vertreterin der Bodennister, „die wir hier so nicht erwartet hatten“.
Für Dr. Mahsberg der Hinweis auf die große Bedeutung der Grünstreifen unter den Bäumen, besonders für Wildbienen. „Sie legen im Boden Nisthöhlen an, in die sie Pollen als Proviant für ihre Larven eintragen.“ Warum sie sich in den Baumkronen aufhalten? Sie profitieren offenbar von dem Kühlungseffekt des Blätterdachs und können dort selbst in trocken-heißen Phasen noch etwas Tau aufnehmen. „Letztlich zeigt das, daß man das Mikroklima in einer Baumkrone in seine Biodiversitätsüberlegungen einbeziehen muß“, so Mahsberg.
Doppelte Kühlung
Wohltuende Effekte, auf die auch der Stadtmensch nicht verzichten kann. „Die Stadtbäume verbessern die gefühlte (und auch gesundheitlich relevante) Temperatur in der Stadt ganz erheblich“, betont Würzburgs Klimabürgermeister Martin Heilig. Durch ihre Beschattung sorgen sie dafür, daß weniger Wärme in der Stadt gespeichert wird. Ihr zweiter Kühlungseffekt geschieht über die Verdunstung ihrer Blätter. Ein großer Baum, dem ausreichend Wasser zur Verfügung steht, könne circa 50 Kubikmeter Wasser verdunsten. Eine Kühlleistung, die der von 150 Kühlschränken entspricht.
Städte sind auf diese Ökoleistung der Bäume angewiesen. Deshalb fährt Würzburg die Strategie: „Wo das möglich ist, sollten wir auf heimische Arten setzen; wo wir auf angepaßte, nicht-heimische Arten setzen müssen, können und sollten wir das tun.“ Klimabaumarten wachsen bereits in zwei Würzburger Alleen auf, und werfen auf dem Marktplatz und im Stadtteil Zellerau schon kleine Schatten. Dr. Böll ist sich sicher: Zur Risikostreuung braucht es einen gesunden Mix aus herkömmlichen und kontinentalen Arten, erweitert um den bereichernden Grünstreifen.
Attraktiv und bewährt
Das Monitoring der Kronenfauna läuft noch ein weiteres Jahr. Nach Datenauswertung wird Susanne Böll ein Ranking der Zukunftsbäume erstellen, das neben ihrer Klimawandelresilienz und Biodiversität noch andere Ökosystemleistungen wie das Schattenspenden und Feinstaubfiltern einbezieht. Die Attraktivität der Arten wird sicher auch ein Kriterium sein. Fragt man sie nach inspirierenden Klimabaum-Alleen, gerät sie ins Schwärmen. „In Berlin-Pankow gibt es eine alte Allee, die ich am meisten liebe, mit Ungarischen Eichen. Die ist toll. Traumhaft.“
Sollten am Projektstandort noch Ängste vor ortsfremden Baumarten, invasiven Arten und anderen Auswirkungen auf die heimische Fauna vorhanden sein, sei ein Besuch des Würzburger Ringparks empfohlen: Unter seinen 220 Baumarten finden sich 63 nordamerikanische, 40 vorderasiatische und 30 südeuropäische Arten. Alle bestens integriert seit mehr als 100 Jahren.