Knorrige Kerle umarmen
Bäume tun der Seele gut, heißt es. Unsere Autorin hat sich einem Selbsttest unterzogen und sich dafür auf die Suche nach einem der ältesten und mächtigsten Gewächse seiner Art gemacht.
Text: Sabine Raithel | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Der Mensch sollte gerade im Leben stehen. Vertikal, aufrecht, mit den Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen und mit dem Kopf durchaus irgendwo oben das Licht der Erkenntnis erhaschend. Aber was tun, wenn Liebeskummer in die Knie zwingt, die viele Arbeit den Rücken krumm macht oder Berge an Unerledigtem den Blick nach oben versperren? „Umarm doch mal einen Baum“, riet mir eine Freundin. „Von Bäumen kannst du lernen, wie man aufrecht stehen bleibt, auch wenn einem ein heftiger Wind um die Ohren pfeift.“
Beeindruckendes Totholzbiotop
Bäume umarmen. Ich? Eine bekennende Stadtpflanze im Wald? Angelehnt an ein stummes, holziges Ding? Die Idee kam mir zunächst befremdlich vor. Aber dann erinnerte ich mich daran, daß ich als Kind gerne im Garten meiner Eltern auf dem Ast einer alten Buche saß. Dort hab’ ich „Hanni und Nanni“ gelesen, meine ersten melancholischen Gedichte geschrieben – und ich habe unter Tränen das erste Herz „S + …“ in die glatte Rinde geritzt. Aber was sollte das für ein Baum sein, der mir heute unverrückbaren Halt und aufbauende Gefühle vermitteln könnte? Das ist wie mit Männern: Es gibt sie nicht häufig, die, an die man sich blind anlehnen kann. Also bloß keinen Bonsai, kein zartes Pflänzchen, keinen Jungspunt – es müßte schon ein ganzer Kerl sein. Gerne etwas älter und mit rauher Schale. In Oberfranken gibt es eine Reihe richtig alter Bäume. Die Kasberger Linde z. B., eine Sommerlinde am Rande des Gräfenberger Ortsteils Kasberg im Landkreis Forchheim. Nach Schätzungen ist sie ungefähr 600 bis 1000 Jahre alt. Das hohe Alter hat der „Grande Dame“ sichtlich zugesetzt. Ihr massiger Stamm mit einem Umfang von 15,8 Metern ist teilweise ausgehöhlt (Totholzbiotop). Sie mußte an mehreren Stellen abgestützt werden. Oder die Eibe bei Bernstein am Wald, an der Grenze der Landkreise Hof und Kronach. Das Alter dieses Baumes schätzen Förster auf ca. 900 Jahre. Eiben können generell sehr alt werden. In der Nähe des schottischen Dorfes Fortingall steht vermutlich die älteste weltweit: Sie hat ca. 3 000 – 5 000 Jahre auf der Rinde.
Der Baum von Zeus, Jupiter, Taranis und Thor
Auf rund 300 Jahre bringen es „Die kalten Stauden“ vor Presseck im Landkreis Kulmbach. Es handelt sich um zwei dicht aneinanderstehende Buchen, die den widrigen Wetterverhältnissen, vor allem dem rauhen Wind auf der Frankenwald-Anhöhe trotzen und dementsprechend nur langsam wachsen. „Der Hüter des Feldes“ ist der Name einer der wenigen uralten Eichen Bayerns. Sie steht inmitten von Feldern in der Nähe von Lichtenfels. Das Alter des Baumes wird mit rund 1000 Jahren angegeben. Die Eiche besteht nur noch aus einem walzenförmigen Schaft, der jedoch jedes Jahr aufs Neue ergrünt. Der Stamm hat einen stattlichen Durchmesser von mehr als sechs Metern. Das merkwürdige Äußere hat ihr auch den Namen „Rasierpinsel-Baum“ eingebracht. Aber diese Bäume taugen nicht für mein persönliches Anliegen. Nach langer Suche finde ich schließlich doch noch den Richtigen: einen stattlichen, vitalen und vollständig erhaltenen Eichen-Veteran.
Aus fossilen Funden weiß man, daß es Eichen schon seit ca. 12 Millionen Jahren gibt. Stieleichen (lat. Quercus robur) können 500 bis 1400 Jahre alt werden. Als heiliger Baum war die Eiche bei den Griechen dem Zeus geweiht, bei den Römern dem Jupiter, bei den Kelten dem Taranis und bei den Germanen dem Thor. Eichen stehen in der Baumsymbolik für Werte wie Standfestigkeit, Härte, Freiheit, Ehre, Kraft, Männlichkeit, Unsterblichkeit und Unbeugsamkeit. Die Eiche gilt als der „weise Vaterbaum“, der den Menschen hilft, die Herrschaft über die Gefühlswelt wiederzuerlangen. Bei so viel Kraft und Standvermögen ist es kein Wunder, daß die Blätter der Eiche nicht nur Pfennig-, und Markstücke sowie den alten Fünf-Mark-Schein schmückten. Auf der Rückseite der 50-Pfennig-Münze pflanzte Gerda Johanna Werner kniend, mit Kopftuch, eine Eiche als Symbol für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute finden sich auf den Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Stücken ebenfalls wieder Eichenblätter.
Ein märchenhaft schöner, prächtiger Baum
Die „Tausendjährige Eiche“ beiSchloß Nagel im Landkreis Kronachzählt zu den ältesten und schönsten Naturdenkmälern in Deutschland. Ich fahre also in den kleinen Ort Nagel bei Küps, parke mein Auto am Dorfbrunnen und begebe mich auf einem schmalen, steilen Fußweg zu dem berühmten Baum. Seinen Besitzer, Hubertus Freiherr von Künsberg, auf dessen Grund und Boden der Baum steht, habe ich vorher um Erlaubnis gebeten. Er hat nichts gegen meinen Besuch einzuwenden. „Ob der Baum tatsächlich 1000 Jahre alt ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Von der ,Tausendjährigen Eiche‘ sprach schon mein Großvater. Aber die Menschen, die diesen Baum besuchen, werden meistens sehr ehrfürchtig angesichts seiner Ausmaße“, sagt er. Und dann steht er schon vor mir. Der Baum. Ein Gigant. Der lange, gerade Stamm reicht etwa 15 Meter unverzweigt in die Höhe; dann folgt die etwa 27 Meter hohe Krone mit einem Durchmesser von 25 Metern. Die Holzmasse des Baumes wird auf 80 Ster geschätzt. Die Rinde der Stieleiche hat tiefe Furchen. Die Borke steht bis zu zehn Zentimeter bretterartig hervor. Ausgeprägte Wurzeln führen am Steilhang entlang; tiefe Pfahlwurzeln sorgen dafür, daß der Baum extrem standfest ist. Warum seine Familie nie der Verführung erlag, diesen massigen Baum zu fällen und zu hübschen, langlebigen Eichenmöbeln zu verarbeiten, frage ich den Freiherrn ein wenig ketzerisch. „Dieser Baum war für uns schon von jeher etwas Besonderes. Solange er vital ist – und das ist er ohne Zweifel – bleibt er stehen. So, wie er aussieht, kann er noch mehrere hundert Jahre alt werden“, kontert er. Und ich bin heilfroh.
Um die „Tausendjährige Eiche“ herum haben sich auch andere Laubbäume und noch ein paar jüngere Eichen angesiedelt. Der Boden ist etwas feucht; in der Nähe gibt es einen Bachlauf und Forellenteiche. Es ist ein besonderer Platz hier, das spüre ich sofort. In dieser märchenhaft schönen, dem Alltag entrückten, stillen Welt, kann man nicht anders, als innerlich zur Ruhe zu kommen. Der Baum sagt mir, daß ich draußen ohnehin nichts verpasse – hier aber jede Menge entdecken kann: Eicheln zum Beispiel mit Stiel, die dem Baum seinen Namen geben. Oder die Struktur der eingeschnittenen Blätter, kleine Schmetterlingsraupen, das sanfte Rauschen der Blätter im Wind, das diffuse Licht, das durch das Blätterdach streut – und mich selbst.
Baum-Umarmen liegt im Trend
Was dieser Baum wohl alles erlebt hat? Angeblich wurden bei Untersuchungen Bleikugeln und Bolzen aus dem Dreißigjährigen Krieg in seinem Inneren gefunden. Der schwedische Reitergeneral Thorstenson belagerte, so heißt es, mehrere Monate lang Schloß Nagel. Dabei wurde auch geschossen – ein paar Kugeln trafen den Baum. Und alles andere? Bleibt sein Geheimnis. Sollte ich vielleicht jetzt dem Rat meiner Freundin folgen und den Baum umarmen? Warum nicht? Erstens sieht mich hier keiner und zweitens liegt Baum-Umarmen grad ziemlich im Trend: Am Weltumwelttag 2014 haben Aktivisten, Abgeordnete und Schulkinder in Nepal einen neuen Rekord aufgestellt. Genau 2001 Menschen haben sich beteiligt und sich zwei Minuten lang an Bäume gekuschelt. „Einfach einen Baum zu drücken, das bringt vielleicht nicht viel. Aber es schärft das Bewußtsein“, befand der nepalesische Parlamentarier Krishna Bahadur Chhantel Thapa. Also lehne auch ich mich vertrauensvoll an den dicken, knorrigen Stamm, lege meine Arme darum und spüre in mich hinein. Manche Freunde können zaubern, so wie dieser hier. Er ist ein verschwiegener Tröster, ein stummer Zuhörer, fest verwurzelt, aufrecht, stolz, gerade. Er läßt sich nicht verbiegen. Aber er zeigt seine Lebensfreude, wenn seine Krone grün ausschlägt. „Fühl dich frei“, sagt er vielleicht gerade zu mir. „Stärke kann man einatmen. Sieh’ mich an. Reck’ dich dem Licht entgegen und entfalte dich.“