Historisches Schwergewicht zum Schwärmen schön
Cadolzburg hat mehr als eine schönste Aussicht – und alle haben eine im Blick: die mächtige, weithin sichtbare Burg auf der steilen Felsnase. Sie thront imposant über dem Marktflecken und bestimmt ein einzigartiges Ensemble: märchenhaft, malerisch und mit viel Geschichte. Von hier aus gelang den Hohenzollern der Sprung an die Macht in Preußen.
Text: Sabine Haubner
Viele Orte würde sich freuen, wenn sie wenigstens über ein Wahrzeichen verfügten. Cadolzburg (Lkr. Fürth) hat gleich zwei. Eines davon fesselt den Autofahrerblick auf der B 8 Richtung Fürth schon Kilometer vor Erreichen des Ortes: Wie ein graziler Wolkenkratzer bekrönt ein Aussichtsturm, vom Volksmund treffend „Cadolzburger Bleistift“ benannt, den Bergrücken, der eh schon markant aus dem Rangau emporwächst. Es ist geradezu naturgegeben, daß Dieter Marx seine Rundtour durch die Marktgemeinde an diesem Bauwerk des 19. Jahrhunderts beginnt. 143 Stufen und 25 Meter sind schnell bezwungen, wenn einen der Cadolzburger Nachwächter mit faszinierender Geschichte füttert. Von der Plattform aus hat man einen überwältigenden Panoramablick bis Nürnberg, Fürth und zu den Jurahöhen. Und auch das zweite Wahrzeichen beeindruckt schon aus der Ferne: die imposante Burganlage mit dem vorgelagerten Altort, ein stark wirkendes Ensemble als Höhe- und Grenzpunkt der Ortsbebauung im Nordwesten. Außerdem hat Marx zum „Bleistift“ einen persönlichkeitsprägenden Bezug: „In meiner Kindheit hab‘ ich ihn von der Küche unseres Hauses aus gesehen.“ Eine von mehreren Erklärungen für seine Liebe zu Cadolzburg, dessen Schönheiten er seit 2007 Besuchern entdeckt – in mittelalterlicher Gewandung, mit Hut, Hellebarde und Horn am Gürtel. Und dann kann man an diesem Bauwerk auch in eine mythische Epoche Cadolzburgs eintauchen: die Zeit der „Kadlschburcher Blöih“.
Kultige Kirschblüte
Eigentlich eine verrückte Geschichte. Einst war der Ort ein Kirschenparadies, und dieser Turm stand mitten drin. Seit dem 18. Jahrhundert schwebten Burg und Ort im April auf einem weißen Blütenmeer, für das zur Hochzeit um 1900 rund 20 000 Obstbäume sorgten – die Attraktion fürs ganze Umland, wie Marx weiß. Vor allem die Fürther Stadtbevölkerung war dem berauschenden Spektakel verfallen. Zum Frühlingserwachen gehörte ein Sonntagsausflug nach Cadolzburg einfach dazu. Die damaligen Tourismusnutznießer waren an einer Intensivierung des Stroms interessiert. So verlängerte die Münchner Lokalbahn-Aktiengesellschaft 1892 ihre Strecke von Fürth nach Cadolzburg – was auch den Obstbauern in umgekehrter Richtung den schnellen Absatz ihrer Früchte, neben Kirschen auch Erdbeeren, in der Stadt sicherte. Zusätzlich ließen sie ein Jahr später unter Beteiligung des Marktes den eleganten Sandsteinturm errichten, als neue Attraktion neben der legendären Burg. Die Kampagne war unfaßbar erfolgreich. Schon ein Jahr später fuhren an den Blühsonntagen Dampfloks mit 16 Wagen Richtung Cadolzburg. Und der Fürther Bahnsteig mußte zur Bewältigung der Ausflüglermassen um 60 Meter verlängert werden. Um die Jahrhundertwende war die Kirschblüte Kult. Zu Spitzenzeiten sollen sich bis zu 30 000 Menschen durch die Obstgärten und Gassen Cadolzburgs gedrängt haben. Kirmestreiben auf dem Marktplatz, Besichtigungen der Burgfolterkammer, selige Gesänge in Bierkellern und gefüllte Gasthäuser gehörten zum Vergnügen dazu. Die Gastronomie florierte. Drei Brauereien und sieben stattliche Gasthäuser am Marktplatz und weitere in den Auen bedienten Durst und Hunger. Die zwei Weltkriege setzten dem rauschhaften Frühlingsereignis ein Ende. Fortschreitende Wohnbebauungen haben die Pflanzungen inzwischen bis auf wenige Obstgärten zurückgedrängt.
Auf dem Weg zu dem geschichtsträchtigen Zentrum macht Marx einen Abstecher zu zwei neuzeitlichen Gewerbebetrieben. An den Produkten des einen ist noch kein Leser vorbeigekommen: Zu Ostern und Weihnachten verlocken sie in Form von schokoladigen Osterhasen und Nikoläusen in den Supermarktregalen. Die Confiserie Riegelein zählt europaweit zu den marktführenden Herstellern von Schokoladen-Figuren und produziert seit 1953 im Cadolzburger Stammhaus. In dessen „Chocothec“ kann man auch süße Kuvertüre aus dem Schokoladenbrunnen schöpfen.
Cadolto Modulbau wurde 1890 als Wagnerei gegründet und stellt seit den 70erJahren Gebäude in Modulbauweise her. Das mittelständische Unternehmen hat sich zu einem führenden Anbieter auf diesem Sektor entwickelt und produziert etwa OP-Säle und Diagnostikräume für Kliniken.
Und auch ein kurzer Schlenker zum Wiesengrund am nordwestlichen Bergfuß muß sein. „Das ist unser Malerwinkel“, präsentiert Marx stolz den schönsten Blick auf die alles überragende Burganlage, eine der mächtigsten Bayerns. Magisch. Die auf einem Sandsteinfelsen erbaute, 1157 erstmals erwähnte Burg erscheint uneinnehmbar mit ihren monumental aufragenden Wänden von Ringmauer, doppeltem Zwinger und Altem Schloß. Dieses besticht mit seinem Fachwerkgeschoß unter steilem Satteldach samt malerisch angelagertem Folterturm. Eine imposante Burg – mit entsprechendem historischen Gewicht, was erstaunlicherweise gar nicht so bekannt ist. Hier gelang den Zollern – die Nürnberger Burggrafen hatten im 14. Jahrhundert ihren Herrschaftsschwerpunkt auf die nahe Cadolzburg verlegt – der entscheidende Karriereschritt hin zur reichsbestimmenden Dynastie der Hohenzollern: Sie stiegen in den Kreis der Kurfürsten auf.
Vom Brusela und den besten Schäuferle
Der Zugang zum Berginneren erschließt sich heute wie im Mittelalter über den langgestreckten Marktplatz der vorgelagerten Siedlung. Wir betreten ihn durch das obere, spätmittelalterliche Turmtor, liebevoll „Brusela“ genannt. Was dahintersteckt? Eine Eigenschaft, von Marx charmant erklärt. „Die Turmuhr ging immer etwas nach. ‚Bruseln‘ heißt nachschleichen, langsam gehen.“ Wenn dann um 11 Uhr die Glocke laut tönte, schraken am Tor die pflichtvergessenen Hausfrauen aus ihrem Ratsch hoch. Linker Hand gleich im Anschluß eines der stattlichen Fachwerkhäuser, die diese Seite des Marktes malerisch säumen. Gegenüber beherrschen kurioserweise Sandsteinfassaden das Bild. „Vorgeblendet“, um der Mode der Zeit zu folgen, ist von der Leiterin des Historischen Museums Cadolzburg, Susanne Wagner-Arenz, zu erfahren. Das trifft auch auf die Schauseite ihres Arbeitsplatzes, des Alten Rathauses, zu. In dem 1668 errichteten Gebäude eröffnete 2017 das Museum, dessen Ausstellung die spannende Geschichte des Hauses und ganz Cadolzburgs näherbringt, aber auch den berühmten Sohn des Marktes Johann Georg Pisendel vorstellt. Der war einer der bedeutendsten Musiker und Komponisten des Barock und unter anderem mit Vivaldi befreundet.
Die meisten Häuser am Markt stammen aus seiner Zeit, denn 1632 wütete der 30Jährige Krieg in Cadolzburg und verschonte nur drei Anwesen, erklärt Marx. Er kennt die Biographie jeden Hauses und kann dessen ehemalige Bewohner in Geschichten wiederaufleben lassen. In einem freistehenden, zweigeschossigen Eckhaus, das mit seinem Mansardwalmdach, Gauben und hellblauen Fensterläden Behaglichkeit ausströmt, hat im 19. Jahrhundert der Bürgermeister und Botaniker Friedrich Emanuel Schmidt gewohnt, heute macht ein freundliches Café Lust auf einen Besuch. Das nächste Haus eröffnet den Reigen der Gasthäuser, präziser: der ehemaligen. Das Wirtshaus zum Grünen Baum hatte eine eigene Brauerei. „Um 1800 gab es drei am Ort, heute ham‘ mer net mal mer eine“, so Marx. Eine umsatzstarke Brauerei war die des ehemaligen Gasthauses Zum Grauen Wolf. „Dessen Felsenkeller geht unterm ganzen Marktplatz durch und ist mindestens 120 Meter lang.“ Riesige kühle Räume zum Lagern von Bier und Eisvorräten, später wurden sie auch als Luftschutzbunker genutzt. Gasthaus „Weißes Lamm“, „Zum Roten Roß“, „Zum Schwarzen Adler“, „Gasthaus Bär“, „Gasthaus Weinländer“ – sie alle sind nicht mehr bewirtschaftet. Letzteres hat vor zwei Jahren geschlossen. Seine Alleinstellungsmerkmale waren die Seniorchefin, die mit dem Brotkorb abkassierte, und „die besten Schäufarla“, wie der Nachtwächter betont. Das Prädikat wurde immerhin vom Nürnberger Sternekoch Alexander Herrmann verliehen. Geschichte. Aber Marx schiebt noch ein G‘schichtle nach. Als die inzwischen verstorbene Seniorchefin jung war, trank sie gerne Libella-Limonade. An einem schönen Sommertag hatte sie ihr angefangenes Fläschchen am Tisch vor dem Haus stehenlassen, um in der Wirtsstube auszuhelfen. Als sie zurückkam, war das Fläschchen leer. Sie durchschaute das Prinzip Jungenstreich, nahm das Fläschchen mit auf die Toilette, füllte es mit Urin und stellte es auf den Tisch zurück. Der Spaßvogel wiederholte seine Limonadennummer, setzte an, trank und spuckte heftig. Später, wenn Marx seine Gruppen an ihrem Haus vorbeiführte, fragte sie zum Fenster raus: „Hast du mei G‘schichtle scho‘ erzählt?“
Dornröschenschlaf beendet
Unter solcherlei Anekdoten sind wir unversehens an die Brücke und das breitgelagerte Sandsteintor zum Burgareal gelangt. Die weitläufige Vorburg tut sich auf mit verträumten Scheunen, Stallungen, Fronveste, Pferdeschwemme und dem rekonstruierten Lustgarten mit blühenden Nutzpflanzen. Hinter diesem ragen die mittelalterlichen Gebäude des Alten Schlosses inklusive riesigem Ochsenschlot und die Renaissancefront des Neuen Schlosses auf. Ein märchenhaftes Ensemble, kaum zu glauben, daß es in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs ausgebrannt und fast vollständig zerstört wurde. „Als Kind bin ich in der Ruine rumgehupft“, erinnert sich Marx an die 60erJahre zurück. Und er hat den Wiederaufbau der Burg als Kreisbrandrat begleitet. 1982 begannen die Arbeiten, 2007 waren sie vollendet. Aus den Eröffnungsfeiern resultierten Marx‘ Nachtwächterjob und die Burgfestspiele, die mit eigens komponierten fränkischen Mundart-Musicals begeistern. 2017 ging die Belebung weiter mit der Eröffnung des Burgmuseums „HerrschaftsZeiten – Erlebnis Cadolzburg“. Auf rund 1500 m² Ausstellungsfläche nimmt es mit auf eine Zeitreise ins Mittelalter, bestückt mit originalen Objekten, belebt durch moderne Inszenierungen und Medienstationen.
Museumsleiter Maximilian Keck kann sich über 54 000 Besucher im Jahr freuen. Auf einem Kamin des Renaissancebaus haben zwei Störche ihren Horst eingerichtet. Sie begrüßen sich freudig mit lautem Schnabelklappern. Man könnte es als Beifall interpretieren. Mehr Burgenromantik geht jedenfalls nicht.