Geschichte, auf die geschossen wurde
Stadt- und Zeitgeschichte, Politik und Kunst – ein Schützenverein wäre wahrlich nicht die erste Adresse, die einem dazu einfallen würde. Ganz anderes gilt für die Königlich Privilegierte Schützengesellschaft Mainbernheim von 1382. In ihrem Schützenhaus hängt eine seit 1783 kontinuierliche Folge von bis dato 239 Schützenscheiben. Runde Holzscheiben, die wie ein Geschichtsbuch den Zeitenlauf bei den Schützen spiegeln, im Städtchen Mainbernheim vor den Toren Kitzingens, in Deutschland, der Welt und darüber hinaus.
Text: Antje Roscoe | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Runde Holzscheiben, kaum 80 Zentimeter Durchmesser, die wie ein Geschichtsbuch den Zeitenlauf bei den Schützen spiegeln, im Städtchen Mainbernheim vor den Toren Kitzingens, in Deutschland, der Welt und darüber hinaus. Es ist offenbar die größte zusammenhängende Sammlung historischer Schützenscheiben in Deutschland, ihr kulturhistorischer Wert ist entsprechend. Hasen und Fasane, die typischen Sujets, sucht man hier nämlich fast vergebens.
Von der Mainbernheimer Stadtmauer bis zur Mondlandung und zurück reichen die Motive der kunstvollen Schützenscheiben. Ehrenvolle Preisgaben sind sie, auf die noch bis 1937 direkt geschossen wurde, um den Schützenkönig zu ermitteln. Dabei sind sie thematisch und künstlerisch von solch außergewöhnlicher Qualität, Vielfalt, Authentizität und Aussagekraft, daß genaueres Hinsehen lohnt. Das Haus der Bayerischen Geschichte (HdBG) tut das mitunter, leiht sich gerne die illustren Holzscheiben für ihre Ausstellungen, sagt Stefan Klausnitzer. Er ist Erster Schützenmeister, was dem Vereinsvorsitzendem entspricht.
Das „Bombardement der Stadt Wuerzburg & Festung Marienburg am 27ten Juli 1866 durch die Preussen“ ist gerade als Leihgabe außer Haus. Sie zeigt die von den Preußen gehaltene Stadt und die von den Bayern verteidigte, aber brennende Festung Marienberg, mit Feuer im Zeughaus. Im Vordergrund bayerische Fuß-Artillerie und Kavallerie – hinter einem schützenden Erdwall, nach rechts aus dem Bild laufend. Das wird kein Zufall sein. Dokumentiert ist eine Zeitenwende für die Verteidigungsstrategien, wie Kunsthistorikerin Katharina Heinemann das Geschehen für das HdBG eingeordnet hat. Barocke Festungsanlagen taugen nicht mehr gegen die modernen, gezogenen Geschütze und werden in der Folge als solche aufgegeben. Selbstverständlich beschäftigt das auch eine Kgl. Privilegierte Schützengesellschaft. Es ist Geschichte pur und derlei Details lassen sich aus sehr, sehr vielen Scheiben der Sammlung ablesen.
Im Schützenleben Ehre und Pflicht
Es ist eine der Erstaunlichkeiten an der Mainbernheimer Sammlung: die zielsichere Wahl von bedeutenden Ereignissen über 240 Jahre hinweg. Sei es die Eröffnung der Bahnlinie zwischen Nürnberg und Würzburg (1864) – mit Halt in Mainbernheim – oder der Maastrichter Vertrag 1992, der die Europäische Union besiegelt. Auf der Schützenscheibe von 2002 sind gar zwei dieser Zäsuren aus 2001 dokumentiert: die Einführung des Euro und der Terroranschlag auf das World-Trade-Center in New York. Vom Karussell des Lebens bis zum Wandel im Weinbau, von der Bavaria bis zur Lebkuchen-Fa-brikanten-Familie Schmidt aus Mainbernheim, politische Zäsuren, Wirtschaftliches und Privates … überraschend bunt sind die Sujets und nicht selten ist ein wenig Spott, sind kleine Frechheiten aufgemalt, wie 1997, als die Bayerischen Rauten in Fränkischem Rot-Weiß erschienen.
Die Schoßmeister sind es bei der Kgl. Privilegierten Schützengesellschaft von 1382, die das Thema, die ihr Thema und die Gestaltung der Schützenscheiben frei wählen. „Einen Durchmesser von maximal 80 Zentimeter“, nennt Stefan Klausnitzer die einzige Vorgabe. Er ist derzeit nicht nur Erster Schützenmeister, sondern seit 2020 auch Erster Schoßmeister – vielmehr ausgebremster Schoßmeister, weil durch die Corona-Pandemie das sportliche und gesellschaftliche Leben im Wesentlichen ruht.
Schoßmeister zu sein, ist für aktive Schützen einmal in ihrem Schützenleben Ehre und Pflicht zugleich. „Ich habe 25 Jahre darauf hin gespart und mich bei allen durchgefressen“, bedeutet er belustigt seine gewissenhafte Vorbereitung. Denn die Schoßmeister-Ehre berechtigt und verpflichtet dazu, erstens die nächste Schoßmeisterscheibe zu stiften und damit namentlich und mit dem persönlich erwählten Motiv die Galerie der Mainbernheimer Schützenscheibensammlung fortzuschreiben. Zweitens ist zum traditionellen Schoßmeisteressen als Bestandteil des mehrtägigen Schützenfestes einzuladen und dieses auszurichten.
Vom Rettichschießen und vom Spargelschießen
Festessen haben schließlich hohen gesellschaftlichen Wert genau wie die Kgl. Privilegierte Schützengesellschaft selbst – und das früher noch viel mehr als heute, wo der sportliche Aspekt immer weiter in den Vordergrund getreten ist. Der kulinarische Part wird aber auch bei den sehr beliebten und gut besuchten Preisschießen gepflegt. So hatte es in Mainbernheim seit 1979 ein Lebkuchenschießen geben, das zwischenzeitlich wie die Lebkuchenbäckerei eingestellt wurde. In der Nachbarschaft aber, in Segnitz trifft man sich jedoch nach wie vor zum Rettichschießen oder in Marktsteft zum Spargelschießen.
Zu einem Schoßmeisteressen sind leicht 100 und mehr Personen zu laden, inklusive Bürgermeister und Pfarrer, so daß je nach Dafürhalten und Geschmack etliche paar Hunderter oder auch ein paar Tausender in Bratwürste oder Braten investiert werden müssen. Ihren Preis hat auch eine Mainbernheimer Schützenscheibe, die natürlich niemals gedruckte Massenware sein kann. Da muß schon ein Künstlerhonorar drin sein. Klausnitzer hat die Sammlung im Blick. Deren Niveau soll gehalten werden, immerhin ist sie gerade dabei, sich zu einem Museum zu mausern. Natürlich hat auch die mehr als 200jährige Geschichte an künstlerischen Stilmitteln interessante Aspekte – vom frühen Einsatz der Fotografie bis zu Comic-Elementen und üppigen Collagen. Die Millionen an Notgeld auf der Inflationsscheibe von 1926 waren ihr Papier kaum wert.
Definitiv bilden unter den Motiven der Schießscheiben-Sammlung die Gepflogenheiten der Schützen selbst eine eigene Kategorie und das zu einem nicht unerheblichen Teil. Vom Schießtag im Schützengraben von 1825 bis zu Richard Rothers Holzschnitt eines Schoßmeister-Frühstücks von 1969 gibt es schöne Einblicke in die Welt des Schützenwesens und der Stadt Mainbernheim. Immer wieder ist die Schützengesellschaft selbst dargestellt, die vermutlich seit 1382, seit der Erhebung Mainbernheims zur Stadt, im Sinne einer Bürgerwehr zunächst schützende und mit den Honoratioren unter den Mitgliedern größte gesellschaftliche und politische Relevanz hatte. Heute ist es eine sportliche und gesellschaftlich-soziale mit vielfältigen Aktivitäten, so Klausnitzer. 130 Mitglieder zählt der Verein, von denen zwei Drittel als aktive Schützen gelistet sind – bei der ältesten Schützengesellschaft in Unterfranken.
Von der Scheibensammlung zum Museum
Sind für Mainbernheim allein drei Straßenbezeichnungen, nämlich die Schützenstraße, An der Schießstätte und der Schießhausplatz mit den Schützen verbunden, ist es der Sprachgebrauch des Deutschen noch viel mehr. Der Sprache nach könnte wohl ein jeder Mitglied eines Schützenvereins sein. Es korreliert auch die Zahl der Schützenvereinsmitglieder, die gleich nach den Fußballvereinen die meisten Mitglieder in den deutschen Sportverbänden stellen. Und selbst Pazifisten, die sich dem entziehen wollen, müssen wohl anerkennen, daß die Wörter Schütze und Schutz, bzw. beschützen, auf den gleichen Wortstamm zurückgehen. Vom Hornberger Schießen bis zum Schuß in den Ofen, „geschossen“ wird immer und überall: ins Kraut, aus der Hüfte oder wie Pilze aus dem Boden. Natürlich haben Schützen auch damit angefangen, „ins Schwarze“ bzw. „den Nagel auf den Kopf“ zu treffen und bevor man sich totlacht, ruft man „Das ist ja zum Schießen!“
Eine so wertvolle Scheibensammlung zu haben, ist das eine. Museum zu werden, nochmal ein ganz anderer Aufwand, hier mit jahrelangem, eher noch jahrzehntelangem Anlauf. Kaum zu glauben ist, wenn Klausnitzer erzählt, daß ein Teil der Scheiben bis 1979 noch im Freien, unter dem Vordach des alten Schützenhauses hingen. Sie wurden, soweit nötig restauriert, katalogisiert und dokumentiert, wenngleich die Darstellungen, Inschriften und Symbolik noch nicht in allen Fällen gedeutet und erklärt sind. Die museumspädagogische Aufbereitung ist ein weiteres Arbeitsfeld. Es ist Klausnitzers Ambition, spätestens seit er sein langjähriges Engagement als Sportleiter gegen das des Ersten Schützenmeisters getauscht hat, das lange vorbereitete und geplante Museum als Highlight für das schmucke Städtchen Mainbernheim fertigzustellen.
„Wir wußten schon, daß wir da einen Schatz haben“, bekennt er. Daß sie überhaupt noch vorhanden sind, mag zuletzt noch Martin Jäger, dem Wirt des Gasthauses Zum Falken, zu verdanken sein, weiß Klausnitzer als gebürtiger Mainbernheimer. Dieser hatte sie im Winter 1944/45 vor den herannahenden US-Amerikanischen Truppen in einem Heuschober versteckt. Bei den fehlenden Exemplaren geht man davon aus, daß zumindest einige aus der Not heraus von französischen Kriegsgefangenen und polnischen Zwangsarbeitern verfeuert wurden, die damals im Alten Schützenhaus untergebracht waren.
Der „Türke“ ist das Prachtstück der Sammlung
Heute sind alle Scheiben chronologisch geordnet und mit Informationstafeln ausgestattet. Die neueren hängen in der Gaststätte des Schützenhauses, die älteren auf neu geschaffenen Museumswänden im Schießstand. Die Schießstände wurden eigens um ein Drittel reduziert. „Vertretbar“, sagt der Schützenmeister, da der Durchlauf bei den modernen, digitalen Schießständen schneller ist. Dafür ist die Kombination aus einem modernen, voll im Leben stehenden Schießstand und Museum unschlagbar. Die Scheibensammlung wird ergänzt um einige Vitrinen, die etliche alte Accessoires aus dem Schießbetrieb zeigen, als Vorderlader und Zimmerstutzen Stand der Technik waren. Schützen-Jargon, Regularien und Procedere sind zu erklären. Der alte Schießplatz draußen vor der Stadtmauer soll wieder als solcher kenntlich werden.
Das Prachtstück aber ist der „Türke“, eine lebensgroße Holzfigur von 1808, die durchaus als Gaudium angeschafft wurde. Gesteuert vom „Zieler“ (Person, die die Treffer anzeigt), kam ihm damals beim Königsschießen die Aufgabe zu, durch Heben des beweglichen Arms die Zentrumsschüsse anzuzeigen. Offenbar schien ein Türke besonders prädestiniert, die besten Treffer anzuzeigen, waren doch die über Jahrhunderte andauernden Osmanischen Kriege als Gefahr für Zentraleuropa vorerst durch kapitale Schieß-Erfolge gebannt. Den stolzen Schützen kostete es einen Liter Wein für die Zieler, wenn der Türke den Arm hob. Diese original erhaltene Holzfigur ist eine solche Rarität, längst ist sie zum Symbol für das Schützenscheibenmuseum im Aufbau geworden. Führungen werden bereits angeboten – auf Anfrage.
Eine Frage an den Schoßmeister bleibt unbeantwortet: die nach dem Thema der 240. Schützenscheibe. „Das werde ich nicht verraten. Mal sehen, es drängt sich ja geradezu auf“, gibt sich Klausnitzer ernüchtert. Die Weltkriege waren zuletzt für Lücken in der jährlichen Mehrung der Schützenscheiben verantwortlich gewesen. Die Covid-19-Pandemie hat es ebenfalls geschafft. Die spannendere Frage ist, ob es dieses Jahr etwas wird, mit dem jeweils tagelang gefeierten, traditionellen Mainbernheimer Schützenfest im August, mit Bürgerschießen und Festzug?