Ausgabe Mai / Juni 2023 | Geschichte(n)

Gedanken sind frei

„Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinung­s­äußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, … Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“. So zu lesen im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Glück gehabt, könnte man denken.

Text: Gunda Krüdener-Ackermann

Man erinnere sich, mit welchem Sammelsurium von Lügen und Intrigen, glaubt man dem UN-Sonderberichterstatter für Folter, die spektakulären Enthüllungen von Wikileaks-Sprecher Julian Assange über Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan von Ländern der „freien Welt“ mit der erbarmungslosen Zerstörung seines Lebens geahndet wurden. Auch Whistleblower Edward Snowdon sollte für seinen „Verrat“ der weltweiten Spionagepraktiken der CIA, wäre es nach Donald Trump gegangen, dafür mit dem Leben bezahlen.

Viel hätte sich somit also nicht geändert seit den Zeiten des großen Napoleon, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seiner Eroberungspolitik anschickte, ganz Europa zu unterjochen. Das hätte u. a. deshalb fast gelingen können, weil die militärische Präsenz Frankreichs von einem ausgeklügelten Spitzelnetz unterstützt wurde, das die Gedanken der Menschen in den mehr oder weniger freiwillig verbündeten Ländern kontrollierte. Kurz zur Erinnerung: In Deutschland gab es ab 1806 den sog. Rheinbund, eine Konföderation einiger deutscher Staaten, die sich Frankreich unterstellten. Folge war, daß das Heilige Römische Reich Deutscher Nation am 6. August 1806 aufhörte zu exi­stieren. Auch im napoleon-hörigen Bayern agierten die Franzosen von nun an als „Schutzmacht“. Vordergründig schien man gut bedient: Bayern bekam erhebliche Gebietszuwächse und „man war nun König“. Aber das mit dem sog. Schutz erlebten die Untertanen nur allzu oft als Plünderung, Ausbeutung, Unterdrückung. Viele Deutsche fühlten sich gedemütigt. Besonders bemerkbar machte sich die wirtschaftliche Misere in der faktisch immer noch freien Reichsstadt Nürnberg. Zwar stand deren Reichsunmittelbarkeit durch die Auflösung des Deutschen Reiches kurz vor ihrem Ende, aber Teil des bayerischen Königreichs sollte man erst mit dem 15. September werden.

Johann Philipp Palm
Johann Philipp Palm

„Fressen, Saufen, Raub und Weiberschänden“

Gerade dieses nurmehr wenige Woche dauernde Interim sollte dem Nürnberger Buchhändler und Verleger Johann Philipp Palm zum Verhängnis werden. Palm, 1766 in der schwäbischen Kleinstadt Schorndorf geboren, hatte bei seinem Erlanger Onkel Johann Jakob Palm eine Ausbildung zum Buchhändler und Verleger absolviert. 1796 heiratet er Anna Katharina Stein, erhält das Nürnberger Bürgerrecht und wird zunächst Teilhaber und schon im Jahre 1800 Besitzer der seit 1603 in der Nürnberger Winklerstraße ansässigen Stein’schen Buchhandlung. Zwischenzeitlich strahlte der Stern Napoleons heller denn je: 1804 hatte der sich zum Kaiser von Frankreich gekrönt. Dennoch war der kleine Korse ständig von tiefstem Mißtrauen geplagt. Vor allem die ihn und seine Politik kritisierenden, ja zuweilen verunglimpfenden Pamphlete und Karikaturen machten ihn rasend. „Die Buchdruckerkunst ist ein mit gefährlichen Waffen gefülltes Zeughaus“, so seine durchaus realistische Einschätzung. Diese kaiserliche Empfindlichkeit traf den Nürnberger Buchhändler Palm mit voller Wucht. Was auch immer sich im Laufe der folgenden dramatischen Ereignisse an Vorwürfen seitens der Franzosen gegen Palm zusammenbraute, historisch belegt ist nur, daß er ein Pamphlet mit dem Titel „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ verlegt und vertrieben hatte. Als Verfasser kommt Palm nicht in Frage. Abgesehen davon, daß die im Juni 1806 erschienene Schrift mitnichten ein Aufruf zur Rebellion war. Adressat ist die Wohnung des friedlichen Bürgers und Landmanns. Stilistisch oft unbeholfen und zuweilen lächerlich pathetisch ist der Verfasser kein Künstler der Sprache. Inhaltlich geht es im wesentlichen um ein Lamento über die desaströse Finanzsituation der von den Franzosen unterjochten Städte oder auch um Napoleons willkürliche Grenzziehung innerhalb der deutschen Gebiete. Auch die offiziell „befreundete“ französische Soldateska wird in ihrem „Fressen, Saufen, Raub und Weiberschänden“ angeprangert. Vor allem Nürnberg hatte es finanziell hart getroffen, so daß die Stadt ganze Straßenzüge, Plätze, Wohnungen verkaufen mußte. Somit kam das Pamphlet gerade recht. Palm verschickte es in kleinen Gebinden an gesinnungsgleiche bayerische Buchhändler, die es ihrerseits an die entsprechende Kundschaft weitergaben. In Augsburg allerdings geriet die Schrift in die Hände französischer Spitzel, die deren Ursprung nach Nürnberg und letztlich bis in Palms Stein’sche Buchhandlung zurückverfolgen konnten. Napoleon wurde informiert – und der schlug unbarmherzig zurück. Am 5. August ergeht an den französischen Generalstabschef Berthier in Deutschland der Befehl, die Nürnberger und Augsburger Buchhändler zu verhaften und innerhalb von vierundzwanzig Stunden wegen Hochverrates zu exekutieren.

Gutgläubigkeit und völlige Fehleinschätzung der Gefahr

Während Napoleons Vernichtungsmühle sich bereits in Gang setzt, ist Johann Philipp Palm noch geschäftlich in München unterwegs. Dort erfährt er durch einen Brief seiner Frau, daß zwei schwarz gekleidete Herren die Geschäfts- und Wohnräume in der Winklerstraße durchsucht haben. Auch über den um Ausgleich zwischen französischen Ansprüchen und bayerischer Souveränität bemühten Minister Maximilian von Montgelas erreicht Palm eine Warnung. Im Nachhinein läßt sich Palms wenig vorsichtiges Verhalten nur als eine Mischung aus naiver Gutgläubigkeit und einer völligen Fehleinschätzung möglicher Gefahren deuten. Immerhin hatte die hochoffizielle Warnung einen gewissen Effekt, denn Palm kehrt von München nicht direkt nach Hause zurück, sondern begibt sich zunächst zu seinem Onkel nach Erlangen. Eigentlich kein ungeschickter Schachzug, gehört doch Erlangen damals zum Fürstentum Ansbach-Bayreuth und ist damit preußisches Hoheitsgebiet. Aber dort hält es Palm nicht lange. Das obere Stockwerk seines Nürnberger Hauses scheint ihm als Versteck sicher genug. Ein fataler Fehler. Am 14. August betritt ein ärmlich gekleideter junger Mann die Stein’sche Buchhandlung. Einen Bittbrief habe er, dringend sprechen müsse er den Buchhändler Palm, denn eine durch Brand geschädigte Familie befinde sich in größter Not. Palms weichherziger Buchhalter Pech führt den Bittsteller daraufhin direkt zu Palm. Wenig später kommt eben jener junge Mann mit zwei französischen Gendarmen zurück, die den Buchhändler festnehmen und in die Arrestzelle des Nürnberger Rathauses stecken. Am nächsten Tag gewährt man Palm kurz, von Frau und Kindern Abschied zu nehmen, bevor man ihn abtransportiert. Anna Katharina sollte ihren Mann noch inständig bitten, den Verfasser besagten Pamphlets zu nennen. Palm jedoch wird dessen Namen mit ins Grab nehmen. Als Gerichtsort für Palm und weitere Delinquenten hatten die Franzosen das österreichische Braunau bestimmt. Eine juristisch höchst bedenkliche Wahl, die aber der Angst vor Aufständen in Bayern geschuldet war.

Auch sonst hat sich die Grande Nation im Fall Palm nicht um rechtliche Korrektheit geschert. Kurzerhand hatte man da in Friedenszeiten den Bürger einer immer noch freien Reichsstadt verhaftet, ihn dann ungefragt durch bayerisches Hoheitsgebiet transportiert, um ihn letztendlich auf österreichischem Territorium vor einem französischen Kriegsgericht abzuurteilen und dort hinzurichten. Auch der Prozeß am 24. und 25. August geriet zur Farce. Ohne sich auf irgendeine konkrete Passage besagter Schrift zu beziehen, ja, ohne sie gelesen zu haben, klagte man Palm an, zu „Meuterey, Aufstand und Meuchelmord gegen die französischen Truppen“ aufgerufen zu haben. Die Richter brachten nur Punkte vor, mit denen die von Napoleon vorgegebene Todesstrafe zu zementieren war. Das Verfahren fand in französischer Sprache statt. Ein Verteidiger? Zeugen? Fehlanzeige! Trotz dieser eklatanten Rechtsbrüche scheint sich Palm sicher gewesen zu sein, daß der französische Spuk bald ein Ende haben würde. Seine Notizen jenes Tages geben Auskunft über seine nächsten Pläne.

Johann-Philipp-Palm-Preis an mutige Vertreter des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit

Die Nachricht am folgenden Vormittag hat Palm wie ein Keulenschlag getroffen. Man hatte ihn zum Tode verurteilt. Die Exekution war innerhalb der nächsten drei Stunden auszuführen. Kurz vor 14 Uhr des 26. August bestieg Johann Philipp Palm einen Ochsenkarren. Eskortiert von Dragonern und Fußsoldaten ging es zum Richtplatz. Eine spürbare Nervosität lag über der Stadt, die sich offensichtlich auch auf das Exekutionskommando übertrug. Denn es bedurfte dreier Versuche Palm zu erschießen. Die Leiche, so die französische Anweisung, sollte in ungeweihter Erde verscharrt werden.

Eine lebendige Erinnerungskultur wurde 1995 in Palms Geburtsort Schorndorf durch eine Stiftung des Ehepaar Maria und Johann Philipp Palm (ein namensgleicher verwandter Nachkomme) ins Leben gerufen. Weil das mit den „die Gedanken sind frei“ nach wie vor auf der Welt lebensgefährlich sein kann, verleiht die Stiftung seit 2002 alle zwei Jahre den mit 20.000 Euro dotierten Johann-Philipp-Palm-Preis an mutige Vertreter des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit.

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