Die zweitkleinste Stadt Deutschlands
Nach 60 Jahren im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze profitiert Ummerstadt im thüringischen Franken heute von seinen bestens erhaltenen Fachwerkhäusern aus vorindustrieller Zeit.
Text: Cornelia Stegner | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Manchmal schluckt ein wolkenverhangener Himmel die Farben. Fällt das Farbige weg, tritt das Grafische in den Vordergrund: die Linien und Kästchen der fränkischen Fachwerkhäuser, die scharfen Schrägen der Scheunendächer, der eigenwillig geformte Bartholomäus-Kirchturm, das Muster des Straßenpflasters und die in schmale Flurstreifen gegliederten Streuobstwiesen außerhalb der Gartenzäune.
Wenn irgendwo der Herzschlag der Zeit einmal ausgesetzt hat, dann hier. Ummerstadt ist ein sehr besonderer Ort. Ganz davon abgesehen, dass es sich mit rund 500 Einwohnern um die zweitkleinste Stadt Deutschlands handelt. Eine politische Ausnahmesituation lässt das Städtchen in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr oder weniger aus dem Weltgeschehen abtauchen. Nach 60 Jahren im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze findet sich Ummerstadt heute mitten im wiedervereinigten Deutschland wieder: als fast vollständig erhaltene Fachwerkstadt aus vorindustrieller Zeit.
Aktion Ungeziefer
Heute ist Ummerstadt wieder eingebunden in das uralte Gefüge zwischen Coburg und Hildburghausen, zwischen Bayern und Thüringen. Nach der Wende setzt der Herzschlag wieder ein. Das zeigt das Gewerbegebiet am Ortsrand, das Neubaugebiet, die parkenden Autos im generalsanierten Ortskern und die beliebten Rad- und Wanderwege durchs Rodachtal.
Um das verträumte, pittoreske Städtchen und seine Menschen zu begreifen, macht ein Ausflug in die jüngere Vergangenheit Sinn. Einer, der viel zu erzählen hat, ist Eberhard Eichhorn. Aus dem Ummerstadt seiner Kindheit ist die Familie 1952 vertrieben worden. Der Vater ist der Wirt der Ratsschänke, zugleich Landwirt und Braumeister. Die „Aktion Ungeziefer“ verändert von einem Tag auf den anderen das Schicksal tausender Menschen, die zufällig dort leben, wo die junge DDR die Schotten zur westlichen Besatzungszone dicht macht. Mit Zäunen, mit Grenzstreifen, mit Minen und Gewehren, aber auch mit Denunziationen, Einschüchterungen und Verdächtigungen. Am 5. Juni werden um vier Uhr morgens acht Ummerstadter Familien aus dem Schlaf gerissen, um mit wenigen Koffern auf Lastkraftwagen in eine ungewisse Zukunft geschickt zu werden. „Man schaffte in dieser Nacht nicht die politisch Unzuverlässigen raus, sondern die Honoratioren der Mittelschicht. Die, die am Stammtisch etwas zu sagen hatten“, sagt Eberhard Eichhorn. In Ummerstadt sind das: Der Gastwirt, der Bäcker, der Metzger, zwei Landwirte, der Bürgermeister, eine Lehrerin.
Im Güterzug, mit dem die Ausgesiedelten von Hildburghausen nach Plaue bei Arnstadt gebracht werden, stellen sich die Weichen für viele Leben neu. „Mein Vater wollte nie in den Westen, der wollte immer nur heim“, sagt Eberhard Eichhorn. Das ganze Leben lang habe sich Albin Eichhorn, den es über Berlin schließlich ins Coburger Land auf der anderen Seite der Grenze verschlägt, nur wenige Kilometer entfernt von der Heimat, nach „seinem“ Ummerstadt verzehrt. Erst mit der Wende und dem jüngsten Sohn der Gastwirtsfamilie, Eberhard, schließt sich der Kreis. Das Kindheitstrauma lässt Eberhard Eichhorn Berufssoldat bei der Bundeswehr werden. Als die DDR abgewickelt wird, hilft er als Logistiker mit, die NVA aufzulösen. Mehr noch: vom gesetzten Leben im oberbayerischen Murnau zieht es Eichhorn zurück zu seinen Wurzeln; das alte Fachwerkhäuschen am Ummerstadter Viehmarkt wird rückübereignet. Eberhard Eichhorn und seine Frau renovieren das heruntergekommene Anwesen. Dreihundert Jahre alt sei das Haus, vielleicht auch mehr. 2007 kehren die Eichhorns ganz nach Ummerstadt zurück. „Ich habe dann einen Historischen Verein gegründet, weil alle über Geschichte reden. Jeder hat was zu Hause und jeder hat was zu erzählen.“
Im Verein diskutiert man darüber, ob es sich beim Turm der St. Andreaskirche auf dem Kirchberg nun um einen ehemaligen Wartturm handelt, oder nicht. Eichhorn vertritt die Theorie, das der Turm des ältesten Gebäudes der Siedlung, deren Name zum ersten Mal auf einer Urkunde aus dem Jahr 837 auftaucht, zur Sicherung der durch iro-schottische Mönche bereits christianisierten Gegend diente. „Nicht weit im Osten verlief die germanisch-slawische Grenze“, erzählt der Hobby-Historiker. Als Oppidum, sprich befestigtes Landstädtchen, wird Ummerstadt 1319 bezeichnet.
Und Eberhard Eichhorn berichtet weiter: von der Stadtmauer mit den ehemaligen Toren, von alten Handelswegen und von einem mit Dornbüschen bewachsenen Wallgraben, der den Ummerstadtern während des Dreißigjährigen Krieges rein gar nichts genutzt habe. „Da haben die Ummerstädter gelitten, und zwar so schwer, dass der Schriftsteller Gustav Freytag in seinen ‚Bildern aus der deutschen Vergangenheit‘ Ummerstadt ausgewählt hat, um das Leiden kleiner Landstädte zu beschreiben.“ Häuser, Vieh und viele Menschenleben hatte der Ort, der damals zum protestantischen Herrschaftsbereich Herzog Johann Casimirs von Sachsen-Coburg gehörte und der es bis dato zu einigem Wohlstand gebracht hatte, nach dem großen Krieg zu beklagen. „1632 kam der Wallenstein aus Nürnberg nach Coburg geritten, mit 40 000 Leuten. Weil die Veste sich im Gegensatz zu den Bürgern der Stadt nicht gleich ergeben hat, hat er als Rache den ganzen Landstrich verwüstet.“ Nach dem ersten großen Überfall sollten zwei weitere folgen. 1648 gibt es noch hundert Seelen in Ummerstadt – über siebenhundert waren es zu Beginn des Krieges.
Vielleicht haben die Überlebenden anschließend einen besonders zähen Menschenschlag begründet, der die Miniatur-Stadt im sanften Heldburger Hügelland bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erneut aufblühen ließ. Unter den Zuwanderern nach Ummerstadt befinden sich Töpfer, deren Nachkommen der Stadt in den folgenden Jahrhunderten den Ruf einer „Töpferstadt“ verschaffen. 1727, Ummerstadt gehört mittlerweile zum Herzogtum Sachsen-Hildburghausen (ab 1826 Sachsen-Meiningen), versorgen die Werkstätten von dreizehn Töpfermeistern die Märkte der Gegend mit Gebrauchsgeschirr aus Ton, der im benachbarten Gemünda und in Colberg abgebaut wird. Berühmt wird das Ummerstadter Geschirr nicht zuletzt wegen der Sinnsprüche, die von gewitzten Häfnern mit dem Malhorn darauf aufgebracht werden. Eberhard Eichhorn hat natürlich eine Anekdote parat: „1875, da wurden die Gulden und Taler durch den Deutschen Reichsgulden ersetzt. Da hat ein Ummerstädter Töpfer einen Teller gemacht und draufgeschrieben: ‚Das alte Geld ist weg, das neue taugt einen Dreck.‘ Da wurde er eingesperrt, wegen Verunglimpfung der Obrigkeit. Nach drei Tagen war er wieder zu Hause, und was hat er gemacht? Auf einen neuen Teller geschrieben: ‚Der Töpfer war im Loch, aber Dreck bleibts doch.‘ – Das sind die Ummerstadter!“
Das Verbot bleihaltiger Glasuren und der Siegeszug des Emaillegeschirrs habe jedoch für den Niedergang des Ummerstadter Töpferhandwerks gesorgt. Der letzte Töpfer, Leopold Berghold, starb 1963. Da war der Ton aus Gemünda bereits unerreichbar, jenseits der Grenze. Dreihundert der einst berühmten „Kaffei-Houfn“ (Kaffeebecher) konnten 2012 zur 1175-Jahr-Feier der Stadt wieder produziert werden – von externen Töpfern.
Eine andere Handwerkskunst konnte die Zeiten unbeschadet überdauern. Bis heute brauen die Ummerstadter zweimal im Jahr ihr Bier. Das Brauhaus, 1826 an Stelle eines älteren errichtet, erinnert an ein volkskundliches Museum – mit dem Unterscheid, das hier noch richtig gearbeitet wird. Am Braumeistertisch sitzt Franz Chilian, der das Braumeisteramt 2012 nach 44 Jahren an seinen Neffen Reiner abgegeben hat. Das Bier zum Eigenbedarf, welches in Ummerstadt schlicht „Salbergebräuts“ (Selbstgebrautes) heißt, werde nur einmal im Jahr, zum Brauhausfest im Juni, öffentlich ausgeschenkt. Das einzige elektrisch betriebene Gerät im Brauhaus, welches vom Brauhausverein mit viel Eigeninitiative in Schuss gehalten wird, ist die Pumpe. Die befördert das Bier ins Kühlschiff. Noch heute wird das frische Bier in tiefen Felsenkellern längs der Straße in Richtung Coburg nach dem Brauen gepflegt und gelagert. Schon als Zwölfjähriger habe Franz Chilian seinem Vater beim Brauen geholfen. „Natürlich gab’s da auch Bier für mich“, lacht Chilian. „Trink ’ner, des bringt Kraft!“, hätten die Alten gesagt. Stimmt. Das Ummerstadter Original steigt im Alter von 77 Jahren heute noch ohne zu zögern die engen Holztreppen im alten Brauhaus auf und ab, um zu zeigen, wo das „Salbergebräute“ im Frühjahr wieder frisch gebraut wird.