Ausgabe Mai / Juni 2024 | Geschichte(n)

Dem Grauen ein Gesicht geben

Das Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg zeigt die Ausstellung ­„Geliebte Gabi. Ein Mädchen aus dem Allgäu – ermordet in Auschwitz“

Text: Markus Mauritz

In deutschen Städten werden wieder antisemitische Parolen gegrölt. Es werden wieder Haß-Reden gehalten wie aus alten Nazi-Kampfschriften. Rassismus und Antisemitismus sind offensichtlich zurück in der Mitte der Gesellschaft. Es ist an der Zeit, sich vor Augen zu führen, wohin uns dies schon einmal geführt hat.

Gabis Pflegefamilie Aichele
Gabis Pflegefamilie Aichele

 

Gabi reitet auf Hofhund Frischle
Gabi reitet auf Hofhund Frischle

Diese Augen! Diese großen, neugierigen Kinderaugen gehen niemandem mehr aus dem Sinn, der die derzeitige Ausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum gesehen hat. Voller Zutrauen und ohne Argwohn blickt die „geliebte Gabi“ in die Kamera, jenes Mädchen aus dem Allgäu, das 1943 fünfjährig in Auschwitz ermordet wurde. Aufgewachsen war sie in der Abgeschiedenheit von Stiefenhofen im Landkreis Lindau. Heute empfiehlt sich das Dorf auf seiner Homepage als „Erholungsort zwischen dem Bodensee und der Nagelfluhkette“. Landschaftlich hat sich offenbar nicht viel verändert, seit Gabi hier ihre wenigen Lebensjahre verbrach-te. Die „sanften Hügel, bunten Wiesen und saftigen Bergweiden“, mit denen Stiefenhofen für sich wirbt, dürften vor achtzig Jahren nicht anders ausgesehen haben als heute.

Aber damals lauerte hinter dieser dörflichen Idylle die Fratze des Nazi-Regimes. Rund sechs Millio­nen Jüdinnen und Juden wurden während des sogenannten Dritten Reichs ermordet. Eine Zahl, die im wahrsten Sinn des Wortes die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Um so erschütternder ist die Ausstellung im Johanna-Stahl-Zentrum. Denn sie gibt dem Unvorstellbaren ein Gesicht: das Gesicht eines kleinen, fröhlichen, aufgeweckten Mädchens.

Gabis Mutter war getauft, das Kind ebenfalls. Aber in der kranken Rassen-Lehre der NS-Ideologen zählten die kleine Gabi und Charlotte Schwarz, ihre Mutter, als Jüdinnen. Deswegen gab Lotte ihre Tochter gleich nach der Geburt 1937 in die Obhut von Pflegeeltern nach Stiefenhofen. Offensichtlich hoffte sie, die NS-Mordmaschinerie würde nicht bis in die Abge-schiedenheit der schwäbischen Provinz reichen. Ein furchtbarer Irrtum, denn als mit den Jahren Hemmschwelle um Hemmschwelle fiel, bot auch die Einsamkeit des Aichele-Hofs keinen Schutz mehr. 1943 wurde die kleine Gabi nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Ihre Mutter war bereits 1941 verhaftet, vorübergehend im KZ Ravensbrück eingesperrt und schließlich in der NS-Tötungsanstalt Bernburg ums Leben gebracht worden.

Das Landwirts-Ehepaar Aichele, zu dem das Kind nach der Geburt in Pflege kam, behandelte ihre „geliebte Gabi“ wie ihre vier leiblichen Kinder. Für Gabi war Lotte die Mutti, aber die Pflegeeltern waren Mama und Papa. In der Stiefenhofener Einöde erlebte Gabi eine unbeschwerte Kindheit. Von diesen Jahren erzählen die alten Schwarz-Weiß-Fotografien in der Ausstellung. „Die Verhältnisse auf dem Hof sind einfach. Fließendes Wasser gibt es nur in der Küche. Als Toilette dient ein Plumpsklo neben dem Stall.“ So heißt es erläuternd auf einem der Paneele, auf denen die Bilder befestigt sind. Eine Wiege mit rosa Rüschen-Baldachin steht im Raum. Die Skier, auf denen die kleine Gabi schneebedeckte Hügel hinabgerutscht ist, das Wollmützchen, das man ihr zum Schutz vor der Kälte aufsetzte, eine Kinder-Heugabel, die Josef Aichele für Gabi anfertigte, damit sie beim Heuen mithelfen konnte, alles das ist in der Ausstellung zu sehen. Alles das hatte die kleine Gabi zu Lebzeiten in ihren Händen.

Gabi mit ihren Pflegeeltern
Gabi mit ihren Pflegeeltern

Die Geschichte von Gabis kurzem Leben ist auch eine Geschichte vom Verdrängen und Wegsehen. In den Nachkriegsjahren erschien die eben zu Ende gegangene Nazi-Diktatur vielen Menschen wie ein schwarzes Loch, in das niemand zu sehen wagte. Der Journalist und Autor Leo Hiemer stieß 1987 eher zufällig auf einen Zeitungsartikel, in dem von einem kleinen Mädchen die Rede war, das in Stiefenhofen aufgewachsen und in Auschwitz ermordet worden sei. Aus Stiefenhofen stammte Hiemers Mutter, und er kannte das Dorf aus seiner eigenen Jugendzeit. Eine Verbindung zwischen dem Ort, in dem er einst seine Ferien verbracht hatte, und dem Vernichtungslager im heutigen Polen habe er sich zunächst gar nicht vorstellen können, wie er anläßlich der Ausstellungseröffnung Anfang März in Würzburg sagte. Aber als er anfing zu recherchieren, verblüffte ihn seine Mutter mit der Aussage: „Natürlich habe ich die Gabi gekannt.“ Aber davon wolle heute niemand mehr etwas hören, meinte sie.

Es hatten sich in jenen Jahren eben zu viele Deutsche in das Terror-Regime gefügt – nicht nur in Stiefenhofen. Gegen allerlei Widerstände sei es ihm trotzdem gelungen, einige „Zeitzeugen zum Reden zu bringen“, wie Leo Hiemer im Ausstellungskatalog schreibt. Das Ergebnis sei 1989 eine einstündige Radiosendung gewesen, die der Südwestrundfunk unter dem Titel „Niemand will davon hören. Ein vernichtetes Kind kehrt zurück“ ausstrahlte. 1993 folgte Leo Hiemers vielfach preisgekrönter Film „Leni… muss fort“ in Anlehnung an Gabis Leidensweg.

Aber das Schicksal des kleinen Mädchens ließ Leo Hiemer nicht mehr los. 2009 begann er erneut mit seinen Nachforschungen, denn in der Zwischenzeit waren in zahlreichen Archiven die Sperrfristen abgelaufen. Außerdem ermöglichte es jetzt das Internet, bis dahin unbe-kannte Dokumente aufzustöbern. Im Mai 2019 erschien schließlich Leo Hiemers umfassende Bestandsaufnahme „Gabi (1937 – 1943). Geboren im Allgäu. Ermordet in Auschwitz“. Auf mehr als 400 reich illustrierten Seiten findet sich dort eine umfassende Darstellung der Geschichte Gabis sowie die ihrer Mutter, ihrer Tanten und ihrer Cousins. Nur eine von Charlottes Schwestern überlebte die Shoah, und nur einer ihrer Neffen kam mit dem Leben davon.
Anhand dieser Schicksale begreift man, mit welcher perfiden Akribie das faschistische Verbrechersystem arbeitete. Nachdem Charlotte Schwarz in Bernburg ermordet worden war, fragte deren Bank beim Oberfinanzpräsidium nach, ob denn die monatliche Überweisung von fünfzig Reichsmark an Gabis Pflegeeltern weiterhin gezahlt werden solle? Ein halbes Jahr später landete die Anfrage auf dem Schreibtisch der Gestapo. Der dortige Leiter für Judenfragen antwortete, es könne nicht angehen, daß ein jüdisches Kind von katholischen Eltern erzogen werde. Daher ordnete er an, „das Kind von dort abzuholen“. Drei Tage später, am 16. März 1943, wurde die kleine Gabi nach Auschwitz verschleppt und sofort nach der Ankunft ermordet. Das Erbe des kleinen Kindes wurde an die Reichshauptkasse überwiesen. Ob die Täter jemals von Gewissensbissen geplagt wurden, ist nicht bekannt. Bestraft wurden sie jedenfalls nicht. Ein Verfahren gegen den zuständigen Gestapo-Beamten verlief ergebnislos.

Zeitgleich mit Leo Hiemers Dokumentation wurde 2019 von Regina Gropper auch die Ausstellung „Geliebte Gabi“ konzipiert, die jetzt im Johanna-Stahl-Zentrum zu sehen ist. Gabis Mutter Charlotte Schwarz war eine moderne Frau, Tochter einer gut situierten Augsburger Kaufmannsfamilie, selbständig und selbstbewußt. Eine Frau, die in die Aufbruchstimmung der Weimarer Republik gepaßt hatte. Eine Frau, die neugierig war auf das Leben: Drei Jahre arbeitete sie nach ihrer Ausbildung als Sekretärin in Spanien.

Gabi und ihre Mutter Lotte Schwarz
Gabi und ihre Mutter Lotte Schwarz

Aber Charlotte Schwarz ist auch eine Frau, mit der es das Schicksal nicht gut meint. Ihr katholischer Ehemann stirbt jung. Sie arbeitet erst in Bad Wörishofen und anschließend in Liechtenstein. Sie wird schwanger, muß das Fürstentum verlassen und bringt im schwäbischen Marktoberdorf ihr Kind zur Welt. Den Namen von Gabis Vater behält sie für sich.

Aber sie weiß das Mädchen in guter Obhut. Alle paar Wochen kommt Lotte Schwarz für mehrere Tage nach Stiefenhofen auf den Aichele-Hof. Die Mutter genießt die Abgeschiedenheit des Landlebens, und sie hält viele Szenen aus dem Leben ihrer Tochter auf Fotografien fest. Deshalb sei Gabis frühe Kindheit „außerordentlich gut dokumentiert. Kleidung, Spielsachen, Skier und über 180 Fotografien von Gabi sind erhalten“, schreibt Kuratorin Regina Gropper in einem kurzen Essay, der im Begleitkatalog zur Ausstellung abgedruckt ist.

Es sei ihr nicht um eine Darstellung des NS-Regimes gegangen, wie sie betont, sondern um das „unfassbare Unrecht“, das dem Kind geschehen sei. „Diesem kleinen Mädchen sollte die gesamte Aufmerksamkeit gehören.“ Gabis Schicksal stehe stellvertretend für rund eineinhalb Millionen Kinder und Jugendliche, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Die Ausstellung besteht aus fünf Stationen, eine Zahl, die man auch symbolhaft für die fünf Lebensjahre der kleinen Gabi lesen kann. Die Fotos gehen uns zu Herzen, weil sie das unbeschwerte Leben in der scheinbar heilen Welt des Voralpenlandes zeigen – vor dem Hintergrund der heraufdämmernden Katastrophe, vor dem Abgrund, der sich wenige Zeit später auftat. Die Bilder zeigen Gabi beim Händchenhalten mit den Nachbarskindern, beim Füttern der Hühner, beim Herumtollen mit dem Hofhund, beim Spiel mit den Katzen oder mit einem Trachtenhütchen auf dem Kopf frech in die Kamera blickend. Zudem findet man Hintergrundinformationen, wie die, daß auf dem Aichele-Hof zehn Kühe im Stall standen oder daß man das Brennholz aus dem Wald holte. Ländliche Idylle wie aus dem Tourismusprospekt.

Wir können uns nicht vorstellen, wie es der fünfjährigen Gabi ergangen haben mag, als sie im März 1943 von uniformierten Schergen des NS-Regimes vom Aichele-Hof in Stiefenhofen abgeholt wurde. Wir können uns nicht vorstellen, was in dem Kind vorgegangen sein mag, als es im Vernichtungslager in Auschwitz ankam. Wir können es uns nicht vorstellen, aber wir wissen, dass es sechs Millio­nen unschuldiger Menschen genauso ergangen ist.

Die Ausstellung „Geliebte Gabi. Ein Mädchen aus dem Allgäu – ermordet in Auschwitz“ im Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg ist noch zu sehen bis Oktober 2024. Der Eintritt ist frei.

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