Ausgabe Juli / August 2022 | Natur & Umwelt

Das Gras wachsen lassen

Städte und Gemeinden haben es in der Hand, den Flächenverbrauch für Privates und Gewerbliches in Bayern niedrig zu halten.

Text: Rainer Greubel | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Die Fahrzeuge brauchen natürlich mehr Platz. Die können sich ja gar nicht bewegen.
Die Fahrzeuge brauchen natürlich mehr Platz. Die können sich ja gar nicht bewegen.

Die Geschichte spielt überall: 1966 etwa in Italien. Der Sänger Adriano Celentano erzählt in „Il ragazzo della via Gluck“ von einem Buben, der in einem alleinstehenden Haus am Stadtrand geboren ist, dort im Grünen aufwächst, barfuß mit Freunden über die Wiesen tollt, später in die Stadt zieht, einen modernen Beruf ergreift, emotional aber immer seiner Herkunft verbunden bleibt und nach Jahren zurückkehrt in die Gluck-Straße. Bitter enttäuscht findet er nicht nur seine Spielkameraden nicht mehr, sondern ist schockiert, weil er statt der Idylle nur noch „case, catrame e cemento“ vorfindet: Häuser, Asphalt und Zement.

Heute ist das an der Tagesordnung, speziell auch in Bayern. Das belegen nüchterne Zahlen: In Bayern werden jeden Tag über elf Hektar Land der Natur oder der Landwirtschaft entrissen – Flächen, Landschaften, die vermutlich nie wieder in einen, ihrem ursprünglichen, wenigsten ähnlichen Zustand zurückversetzt werden. Aus Jux und Tollerei geschieht dies nicht. Es gibt gute Gründe, Flächen zu bebauen: Wohngebiete, Gewerbe- und Industriegebiete, Verkehrswege, Freizeitanlagen etc. werden gebraucht. Die Bevölkerung in Deutschland, Bayern und Franken wächst und ihr Bedarf an Zusatzflächen wächst mit ihr. Tatsächlich? Muß die Umwidmung von unbebauten Flächen in diesem Maße stattfinden?

Nein, sagt zum Beispiel der Bund Naturschutz (BN) in Bayern. Es gebe Leerstände, auch in erschlossenen Gewerbegebieten, die, rein rechnerisch, für die nächsten zehn Jahre reichen würden. Steffen Jodl vom BN Unterfranken nennt die Situation in puncto Wohnbebauung dramatisch: „Trotz zahlreicher Leerstände und Baulücken in den meisten Kommunen werden immer wieder neue Baugebiete auf Kosten von Natur und Ackerflächen, die für die Nahrungsmittelproduktion – wie wir inzwischen deutlich feststellen – essentiell sind, ausgewiesen.“

Kreisverkehre bieten mitunter reichlich Platz für wertvolle Biotope.
Kreisverkehre bieten mitunter reichlich Platz für wertvolle Biotope.

Trabantenstadt auf dem Dümmersberg

Tatsächlich machen sich auch Politiker stark gegen das Zubauen der Landschaft wie etwa der Verwaltungsjurist und Landtagsabgeordnete Volkmar Halbleib (SPD) aus Ochsenfurt. Er bevorzugt eindeutig das Leerstandsmanagement mit Unterstützung von Innerortmaßnahmen, um die verbliebenen landschaftlichen Freiräume zu schonen und zu schützen. Für einen Oppositionspolitiker sind die Durchsetzungsmöglichkeiten eingeschränkt; aber er arbeitet auch in mehreren Vereinen mit, die sich dem behutsamen Umgang mit der Umwelt verschrieben haben und verweist auf entsprechende Projekte in seinem Wahlkreis.

Dennoch hat die Stadt Ochsenfurt 2018 die Idee verabschiedet, sich eine Trabantenstadt leisten zu wollen. Oberhalb des Maintals soll auf der Hochfläche des Dümmersbergs eine Fläche von 20 Hektar mit 550 Wohneinheiten für 1400 Menschen bebaut und das benachbarte Gewerbegebiet Hohestadt erweitert werden. Prompt hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die das Bürgerbegehren „Erhaltet den Dümmersberg“ anstrebt, um die Umsetzung der Pläne zu verhindern. Anstatt den Ochsenfurter Gau mit bestem Ackerland mit Lößboden zu beschneiden, sollten laut Bürgerinitiative die Reserven in den Ochsenfurter Ortsteilen Darstadt, Erlach, Goßmannsdorf, Hopferstadt und Zeubelried aktiviert werden. Man mag spekulieren, welche Lösung sich durchsetzen wird: vereinzelt und unauffällig im Ensembleschutz in Dörfern -Lücken zu füllen oder großflächig und wie aus einem Guß ein Straßennetz aufzuziehen, zu baggern und zu buddeln und Neubauhäuser entstehen zu lassen?

So etwa sieht es vermutlich dereinst am Ende der Welt aus – also etwas beschönigend.
So etwa sieht es vermutlich dereinst am Ende der Welt aus – also etwas beschönigend.

Industriebrachen nutzen

Als Kirchturmdenken bezeichnet der BN den Ehrgeiz fast aller Gemeinden, sich ins Ackerland hinaus auszudehnen. Mehr als zwölf Hektar beste Agrarflächen verschwanden am Rande der bisherigen Bebauung in Estenfeld bei Würzburg unter Einfamilienhäusern. Bei Gerolzhofen überdeckt neuerdings das Logistikzentrum eines Discounters über elf Hektar (ha) Ackerland. Die vielzitierten „neuen“ Arbeitsplätze relativieren sich schnell, wenn man gegenrechnet, wie viele Arbeitsplätze lediglich verlagert wurden.

Zu den Großprojekten in Mittelfranken gehört ein neues ICE-Werk bei Roth-Harrlach. Je nach endgültiger Planung sollen dort bis zu 45 ha Äcker, Wiesen und Wald überbaut werden, davon die meiste Fläche im südlichen Reichswald. Nicht weit entfernt plant der Markt Allersberg zwei Gewerbegebiete mit rund 20 ha. Abgesehen von der optischen Umgestaltung der Landschaft, sind auch Wassereinzugsgebiete der Stadt Fürth betroffen, man könnte auch sagen: gefährdet. Kritiker schlagen vor, man könne auch erst mal Industriebrachen ins Kalkül ziehen, anstatt intakte, klimaaktive Flächen zu zerstören.

Erdlager bei Breitengüssbach ...
Erdlager bei Breitengüssbach …

Die Abschaffung des Anbindegebotes soll wieder abgeschafft werden

In Oberfranken hat sich ein Aktionsbündnis gebildet, um den Bau einer Rastanlage an der Autobahn 73 Höhe Drossenhausen im Landkreis Coburg zu verhindern. Es gebe andere Lösungen sagen die Bürger, etwa in bestehenden Gewerbegebieten an Autobahnausfahrten.

Nicht nur einzelne Bürger oder Aktionsgruppen wollen den Flächenfraß bremsen. Der Freistaat selbst tritt aufs Pedal. Zynisch könnte man fragen: „Auf welches?“ Immerhin soll das Landesentwicklungsprogramm des Freistaates wieder geändert werden. In der „Fortschreibung“ im Jahr 2018 geschah dies allerdings mit einer Aufweichung bestehender Richtlinien. Zum Beispiel schaffte damals die Regierung das „Anbindegebot“ ab, das besagte, daß neue Gewerbegebiete nur in unmittelbarer Nähe zu bestehenden Siedlungen entstehen dürfen. Folglich begannen hurtig die Planungen für Gewerbegebiete, wo immer man wollte, auch mitten in der Landschaft. Diese Möglichkeit soll nun also wieder gestrichen werden – welch eine Revolution! Auch bestehende Ausnahmen aus „topographischen Gründen“ und für Betriebe über 3 ha Größe sollten nach Meinung von Umweltverbänden jetzt abgeschafft werden.

Nüchtern und verblüffend offen schreibt das Bayerische Landesamt für Umwelt bezüglich des Koalitionsvertrags von 2018: „Bayern bekennt sich zum Ziel der Bundesregierung, bis 2030 den Flächenverbrauch auf bundesweit unter 30 ha pro Tag zu reduzieren und strebt daher an, eine Richtgröße für den Flächenverbrauch (in Bayern) von 5 Hektar pro Tag im Landesplanungsgesetz zu verankern.“ Bis heute ist dieses „Anstreben“ tatsächlich eine Idee geblieben bei reell 11,6 ha pro Tag, obwohl die Richtgröße von 5 ha tatsächlich im Dezember 2020 im Bayerischen Landesplanungsgesetz festgeschrieben wurde. Papier ist eben geduldig.

Hier, bei Lichtenfels, soll wieder ein Stück Autobahn entstehen.
Hier, bei Lichtenfels, soll wieder ein Stück Autobahn entstehen.

Bayerns Dorferneuerungsprogramm

Das Bayerische Landesamt für Umwelt weiß außerdem: „In ländlichen Gebieten, in den Grenzregionen und in eher strukturschwachen Räumen ist der Flächenverbrauch deutlich höher als in den Ballungsgebieten. Teilweise werden trotz schrumpfender Bevölkerungszahlen zusätzliche Wohn- und Gewerbeflächen mit Straßen, Kanälen und anderen Infrastrukturen gebaut. Ein Grund dafür sind die oftmals niedrigeren Grundstückspreise in diesen Regionen, wodurch leichtfertiger (Bau-)Grundstücke gekauft werden. O-Ton Umweltamt: „Unter dem Flächenverbrauch und dem zunehmenden Verkehr leiden Natur und Landschaft, aber auch die Attraktivität von Orten.“ 

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht die Hoffnung, daß der ebenfalls nicht immer unproblematische, weil häufig umweltbelastende Tourismus so manche Landschaftsverschandelung bremst. Generell gesprochen, zeigt sich oft eine Ambivalenz: Einerseits wollen Gemeinden Bauplätze anbieten, andererseits wollen sie den Landverbrauch reduzieren und Suburbanisierung vermeiden. Man will die Entleerung des ländlichen Raumes bremsen, man versucht (auch kleine) Orte attraktiv zu erhalten oder zu machen, bräuchte also beispielsweise Neubaugebiete für Wohnhäuser, will aber andererseits die Ortsränder nicht weiter aufblähen. Ein Lichtblick in diesem Dilemma ist das seit 40 Jahren bestehende Dorferneuerungsprogramm der bayerischen Regierung. Jüngst gewann als Resultat dieser vom Amt für Ländliche Entwicklung gestützte Maßnahme die Allianz Hofheimer Land im Landkreis Haßberge den Europäischen Dorferneuerungspreis, um den sich Kommunen aus elf Staaten bewarben. Stichworte dazu sind Sicherung der Nahversorgung durch dezentrale Dorfläden, Mobilität, Bürgerbusse, Mitfahrbänke, Carsharing, gut ausgebaute Radwegenetze und … Ortskernrevitalisierung. Dazu gehörte bei der Allianz Hofheimer Land mit 15.000 Einwohnern, 340 Leerstände mit hochwertiger Sanierung zu reaktivieren und dadurch 45 ha Fläche eingespart zu haben. 

Solche Maschinen braucht man heute auf jeden Fall. Der Laie weiß natürlich nicht wozu. Aber man muß ja nicht alles wissen.
Solche Maschinen braucht man heute auf jeden Fall. Der Laie weiß natürlich nicht wozu. Aber man muß ja nicht alles wissen.

„Grüne“ Energie gerät schnell zur Mogelpackung

Die Regierung von Unterfranken leistet sich neuerdings zwei Flächensparmanagerinnen, die Geographin Anne Weiß und eine Kollegin. „Der Boden, den wir überbauen, ist nicht nur das Geld wert, das man aktuell an diesem Standort bezahlt“, sagt Anne Weiß. Ob das Flächensparen greift, wird man sehen, denn so nebenbei gieren auch andere nach offenen Flächen. Zuckerrübenanbau für Äthanol, Maisanbau für Methanproduktion und sogar Weizenanbau zur Verbrennung und Energiegewinnung konkurrieren um die Flächen. 

Auch andere „grüne“ Energie gerät schnell zur Mogelpackung. Wer Ackerland mit Photovoltaikanlagen überbaut, treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus. Für Landwirte sind aber die höheren Pachteinnahmen für Photovoltaik und Windräder lukrativer als die Verpachtung an ackerbauende Kollegen. Mindestens in Mittelfranken ist es bereits üblich, Pachtverträge nur noch auf Jahresfrist abzuschließen, um schneller auf steigende Marktpreise reagieren zu können.

Unbebaute Flächen wie Wälder, Felder, Wiesen und Ödland sind anerkanntermaßen wichtig für die Grundwasserbildung, den Hochwasserschutz, gegen das Insektensterben und den Verlust der Artenvielfalt. Naturräume sind nicht nur wertvoll für den Tourismus, sondern auch für die Lebensqualität der Einheimischen. Ökonomische Interessen stehen dem aber allzuoft entgegen.

Es mag ein schwacher Trost sein, daß andere Bundesländer schlechter dastehen. Mit einem Anteil von 23% Siedlungs- und Verkehrsflächen (SuV) zeigt sich Nordrhein-Westfalen am ungünstigsten. Bayern auf Platz 9 hat 12,2% SuV; der Bundesdurchschnitt liegt bei 13,8%.

Ein weiterer Trost: Nicht alle SuV sind komplett versiegelt, sondern ein Teil des Regenwassers darf ins Grundwasser versickern.

Städte und Gemeinde haben es in der Hand, den Flächenverbrauch für Privates und Gewerbliches niedrig zu halten. Verstärkter Geschoßwohnungsbau und die Bebauung innerörtlicher Baulücken und Leerstellen schonen die Peripherie. Nicht jede Wiese und jeder Acker am Ortsrand muß zementiert werden. Dann könnte das Ende von Adriano Celentanos Lied, heute noch hochaktuell, eine vergangene Ära beschreiben: „Perché continuano a costruire le case …“ Ich weiß nicht, warum sie weiter Häuser bauen und nicht das Gras wachsen lassen. Niemand weiß, wie das enden wird – „Chissà come finir.“

Am Untermain, kurz vor Miltenberg, wird auch gerne Landschaft gestaltet.
Am Untermain, kurz vor Miltenberg, wird auch gerne Landschaft gestaltet.

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