Ausgabe Oktober / November 2023 | Natur & Umwelt

Blühende Dorfkultur

Guter Heinrich, Herzgespann und Zaunrübe – früher wuchsen sie in ­jedem Dorf. Strukturwandel und Sauberkeitswahn haben sie nahezu ­ausgelöscht. Der Botaniker Otto Elsner hat diesen Pflanzen vor seinem Zaun Raum gegeben. Ein Plädoyer für mehr wertvollen Wildwuchs.

Text: Sabine Haubner | Fotos: Ina Elsner
Giftig, Kürbisgewächs, wunderbar anzusehen und stark gefährdet: Die Zaunrübe.
Giftig, Kürbisgewächs, wunderbar anzusehen und stark gefährdet: Die Zaunrübe.

An diesem Ort könnte man sich mit der Welt versöhnen. Der Blick fällt auf ein behagliches fränkisches Fachwerkhaus, flankiert von malerischen Nebengebäuden und eingebettet in einen idyllischen Naturgarten. Otto Elsner empfängt uns am Staketenzaun, der sein hi­storisches Anwesen so einfaßt, daß er nicht abriegelt: Die Natur darf zwischen den Pfählen hervorquellen. Eigentlich sind wir wegen dieses Zaunes, genauer eines kleinen Abschnitts nach Rottenstein am Haßbergtrauf gekommen. Davor hat der Biologe einer typischen Dorfpflanzengesellschaft Raum geschaffen, wie man sie so heute nicht mehr an ihren angestammten Plätzen findet. Ein kleiner Lehrpfad, wohl der einzige seiner Art in Deutschland, ist so in dem kleinen Ortsteil der Gemeinde Aidhausen (Lkr. Haßberge) gewachsen. Bevor wir die floralen Raritäten mit so wunderbar sprechenden Namen wie Guter Heinrich, Herzgespann oder Katzenminze bestaunen, gibt es eine erfrischende Pause im kühlen Wohnzimmer. Hier saßen schon vor 230 Jahren Elsners Vorfahren zusammen, wenn es die Zeit erlaubte, und genossen den erhebenden Blick durch die Sprossenfenster – hinunter über das fränkische Land, bei guter Fernsicht bis zur Rhön und zum Steigerwald. Eine Wohltat fürs Auge – und den ganzen Körper. Zwei Tage zuvor hatte der im aufgeheizten Maintal bei 35 Grad geächzt.

Hätte Elsner seinen Mitmenschen gefolgt, als er in den achtziger Jahren den Hof seiner Ahnen übernehmen wollte, gäbe es diesen nicht mehr. Auf die Empfehlung „reiß es ab!“ reagierte er mit dem Antrag auf Denkmalschutzstatus. Aufwand und Widerstand schrekken den Botaniker weniger ab, als daß sie ihn anstacheln. Den Beweis gibt er uns gleich an die Hand: eine zweibändige Flora der Haßberge und des Grabfelds, an der er maßgeblich mitgewirkt hat. „30 Jahre Hügel rauf und runter, reine Ehr. Es war eine unvorstellbare Arbeit und irgendwie muß man auch verrückt sein, um ein solches Projekt zu machen.“ Ein Idealist also und dazu paßt, daß er 2018 „in etwas fortgeschrittenem Alter“ zusätzlich zu seiner Arbeit als selbständiger Diplombiologe im Natur- und Umweltschutz die Aufgabe eines Gebietsbetreuers im Naturschutz übernommen hat. Als solcher setzt er sich für den Erhalt sensibler Lebensräume in den Haßbergen ein, „solange mich die Füße tragen“.

Während über 30 Jahren botanischer Kartierungsarbeit hat er sein Faible für die Stiefkinder der heimischen Flora entdeckt: für die unscheinbaren, vernachlässigten, ja von vielen ungeliebten Winkelsteher, die genauso zur fränkischen Dorfkultur gehören wie Kirchweih, Traditionsvereine und schmucke Fachwerkhäuser. Doch aus dem Ortsbild sind diese Dorfkräuter nahezu verschwunden, „zu 99 Prozent weg“, weiß Elsner.

Der Biologe Otto Elsner und sein idyllisches Anwesen.
Der Biologe Otto Elsner und sein idyllisches Anwesen.

Schatzkammer am Straßenrand

Herzgespann, das Kraut gegen Herzbeschwerden und Nahrungsquelle für Hummeln bis weit in den Herbst.
Herzgespann, das Kraut gegen Herzbeschwerden und Nahrungsquelle für Hummeln bis weit in den Herbst.

Was dort fehlt, schauen wir uns an der straßenseitigen Flanke des Hauses an. „Des is mei Gartenzaun“, präsentiert er den bunten Abschnitt stolz. „Jeder andere sagt: Des is‘ Schlamperei, des muß ja weg.“ Von wegen Schmutzecke. Eine pflanzliche Schatzkammer tut sich hier auf. Ihre Protagonisten stellt Elsner auf einer Informationstafel vor. Da wuchert der Gute Heinrich, eine klassische Dorfpflanze, die früher an jeder Hofstelle zu finden war. Mittlerweile ist sie in manchen Bundesländern vom Aussterben bedroht. Das Gänsefußgewächs mit den spießförmigen Blättern machte in früheren Zeiten seinem Namen alle Ehre, denn es war den Menschen in mehrfacher Hinsicht nützlich. Im Frühjahr verwendeten sie seine jungen, wohlschmeckenden Triebe als eine Art Spinat. Die Blätter, Wurzeln und Samen der Staude fanden aber auch in der Heilkunde Verwendung. Aufwendiger Anbau war nicht nötig, denn die Pflanze wuchs wild. Am liebsten in der Nähe von Ställen, an Misthaufen oder Zäunen. An diesen Standorten hatte sie die besten Aussichten auf nährstoffreiches Substrat. Elsner weiß, daß der Gute Heinrich ursprünglich eine Weidepflanze war, und besonders auf den stickstoffreichen Geilstellen gedieh. Wie er ins Dorf kam und ihm dort die Existenzgrundlage wieder entzogen wurde, kann exemplarisch für viele andere Dorfpflanzen stehen.

„Vor 150 Jahren gab es in jedem Dorf ’nen Hirten, der hat die Tiere eingesammelt und zur Allmendeweide geführt“, blickt Elsner zurück. Die Samen des Guten Heinrichs wurden über Fell und Klauen der Tiere in die Dörfer getragen. Als die noch landwirtschaftlich geprägt waren, fanden sie dort beste Keimbedingungen. Der Wegfall der umherziehenden Schaf- und Ziegenherden leitete den heimischen Rückgang des Guten Heinrichs ein. „Bis in die Sechzigerjahre war’s noch einigermaßen gut um ihn bestellt“, weiß Elsner. Der große Agrarstrukturwandel mit der zunehmenden Verstädterung und Versiegelung der Dörfer grub den Dorfpflanzen, die sich an den Menschen angepaßt hatten, buchstäblich den Boden ab. Diesen mangelte es an Wertschätzung ihrer treuen Begleiter. Sie fallen bis heute dem Sauberkeitswahn zum Opfer, der verhindert, daß es aus Ritzen und Rändern hervorgrünt und -blüht. „Es kommt immer jemand, den stört ein Stengel und der muß ihn abrupfen“, regt sich der Botaniker auf. „Aber an meinem Haus hab‘ ich den Daumen drauf.“

Und so kann sich neben dem Guten Heinrich auch das vom Aussterben bedrohte Herzgespann entfalten. Die stattliche Staude mit ihren charakteristisch eingeschnittenen Blättern und den quirlständigen rosa Blüten ist ein echter Blickfang und offensichtlich auch für Insekten attraktiv: Eine Hummel sammelt an ihr gerade Pollen. „Hier sieht man die ökologische Funktion der Dorfpflanzen“, betont Elsner. „Es ist Mitte Juli, in den Nachbargärten blüht nichts: alles abgemäht. Aber hier finden Hummeln, Bienen und Schwebfliegen noch Nahrung.“

Ausgebüxte Heilkräuter

Der „Gute Heinrich“ taugt im Frühjahr als Spinat.
Der „Gute Heinrich“ taugt im Frühjahr als Spinat.

Das Herzgespann gehört übrigens zum Typ Dorfpflanze „Ich bin aus dem Bauerngarten ausgebüxt“, erklärt Elsner. Denn dort wurde die schon in der Klostermedizin geschätzte Heilpflanze kultiviert, um bei diversen Herzbeschwerden eingesetzt zu werden. Gleich daneben andere Pflanzen dieser Kategorie wie der Wermut. Auch er ein Heilkraut und Gewürz für Genießer: „Er gehört an den Gänsbraten und in den Absinth.“ Daneben bieten Katzenminze, Schwarznessel und die attraktive Ackerglockenblume bis in den September hinein eine Insektenweide. Und dann Elsners ganzer Stolz: die Weiße Zaunrübe. Das stark gefährdete, giftige Kürbisgwächs hat eine „kindskopfgroße Wurzel“ und wurde früher als Heilpflanze eingesetzt. Für die korkenzieherartige Ranken hat er zusätzliche Kletterhilfen angebracht. Überhaupt der Pflegeaufwand: „Mich kostet der Streifen mehr Arbeit, als wenn ich ihn wegmähen würde.“ Vielfalt, Farbe und Leben am Straßenrand – wie kommt der kleine Lehrpfad an? „Am Wochenende gibt es einige wenige, die stehenbleiben, die meisten gehen dran vorbei.“ Otto Elsner nimmt’s gelassen. Anderes eher weniger. Im nahegelegenen Königsberg wuchs am zentralen Salzmarkt noch das Herzgespann. „Ich hab‘ mindestens fünf Briefe an den damaligen Bürgermeister geschrieben und gebeten, daß man das erhalten muß.“ Doch der Eigentümer wollte es ordentlich vorm Haus habe. „Extinct“, Elsner regt sich noch immer auf, und macht weiter. Schließlich hat er sich einen Wunsch zu erfüllen: „Eine Dorfpflanze an ihrem Originalstandort finden.“

Er wird demnächst bei einigen Bürgermeistern der Umgebung anklopfen. „Mit unserem komm‘ ich schon zusammen.“ Der Samen könnte auf fruchtbaren Boden fallen. Dorit Bollmann leitet beim Amt für ländliche Entwicklung Unterfranken das Sachgebiet Landespflege und ist für die Bayerische Dorferneuerung zuständig. Momentan profitieren 100 Gemeinden von dem Programm und werden auf die Bedeutung der Dorfpflanzen hingewiesen. „Das ist schon eine Chance, sich zu überlegen: Wollen wir es so geleckt haben, oder etwas bunter und so, wie es früher im Dorf natürlicherweise ausgesehen hat.“ Sie konnte inzwischen einen Bewußtseinswandel feststellen und „wenn Herr Elsner eine Idee hat, wie die Dorfpflanzen im Rahmen des Programms stärker gefördert werden können, kann er sich gerne an mich wenden“. Da geht noch was.

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