Alles nach Plan?
Ein Versuch, mit dem, was gegenwärtig in der Welt passiert, halbwegs zurechtzukommen.
Text + Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Was gäben wir, hätte überhaupt irgendein Intelligenzblatt einen scharfsinnigen Putin-Erklärer: keinen -Versteher. Einen -Exegeten? Nur, wie immer bei woken Themen, tut sich da zunächst vor allem der Hobby-Irokese unter den hiesigen online-gazetteers Sascha Lobo hervor (auf Spiegel-online). Er freilich erläutert uns immerhin, „bodengestützt“ auf den amerikanischen Russlandexperten Michael Kofman, den britischen Militärwissenschaftler Justin Bronk und den bulgarischen Politologen und intimen Kenner des postsowjetischen Osteuropa, Ivan Krastev, die Entfaltung der russischen Propaganda (!) zum Anfangsversagen der russischen Truppen. Zunehmend wird deutlich, daß dieses Versagen den Angriff auf die Ukraine immer brutaler, oder wie sich CIA-Chef William Burns sinngemäß ausdrückt, immer häßlicher und schlimmer werden läßt. Laut Krastev ist der „Kreml Opfer seiner eigenen Propaganda“ geworden. Justin Bronk ist zudem vom „völligen Mangel an Koordination zwischen den Bodentruppen und den Luftstreitkräften“ überrascht; und überhaupt bemängeln die Experten, daß ja gar nicht in Eroberungsstärke einmarschiert wurde. Im Kreml glaubte man offensichtlich, so die Spezialisten, die eigenen Lügen und dachte, man würde als „Befreier“ begrüßt.
Schön! Und was sagt uns solche „Propaganda-Analyse“? Daß es längst viel mehr zivile Opfer geben müßte, Kiew, Charkiw, Odessa und viele andere ukrainische Städte längst zerstört sein könnten (was wahrscheinlich der Fall sein wird, wenn Sie das lesen), wenn die russischen Soldaten besser vorbereitet, geführt, der Nachschub besser organisiert, der Angriff überhaupt besser geplant, militärstrategisch rationaler exekutiert worden wäre? Und: wenn der Propaganda-Apparat über eine funktionierende Fehlerkultur verfügte?
Das magische Wort
Der eine oder andere könnte nun Probleme damit haben, daß bereits zu einem Zeitpunkt, in dem der Krieg vermutlich noch lange nicht vorbei ist, dem Aggressor haarklein dargelegt wird, was er falsch gemacht hat – sehr detailliert übrigens auch von dem britischen Militärexperten Ed Arnold („Man versucht, den Widerstand durch massiven Einsatz von Feuerkraft zu brechen“, sp-online vom 4. März 2022). Möglicherweise erschließt sich der Sinn einer solche Berichterstattung nur dem zivilen Leser nicht, bis er – so er nicht in einer „schleichenden Normalisierung“ des Krieges liegen soll – … bis er sich wieder daran erinnert, daß ihn das Kriegsgeschehen, sei es im Irak, Tschetschenien oder Syrien doch auch nicht derartig aus der Ruhe gebracht hatte. Gut, die Nachrichten werden (damals wie heute) von Tag zu Tag schrecklicher, woran man sich bekanntlich irgendwann gewöhnt. Aber es wurde nicht, wie jetzt, gleich mit einsatzbereiten Atomwaffen gedroht – das gab es 1962 zur Kuba-Krise zum letzten Mal, von der inzwischen freilich kaum noch jemand weiß. So zynisch es klingt, aber es hat den Anschein, das Leid der Menschen, die Opfer wären leichter zu ertragen, wenn das ganze Geschehen nicht so unverständlich, so widersinnig, so anachronistisch, so irrational wäre.
Wie auch immer: Das magische Wort, das gegenwärtig vermutlich meistgebrauchte Prädikat in den Nachrichten lautet: „rational“. Das Grausame, Unmenschliche, Schreckliche möge doch bitte begründet, logisch, planvoll, berechnet, zweckmäßig, durchdacht, verständlich, nachvollziehbar sein oder was das Schlüsselwort noch bedeuten mag. Man kann den Kommentatoren – von Koryphäen wie etwa beim israelischen Historiker Yuval Noah Harari angefangen, der allerdings nichts wirklich Erhellendes beizusteuern vermag – zugutehalten, daß sie alle irgendetwas zu entschlüsseln suchen, das helfen sollte, Putin zum Einlenken zu bewegen. Dabei läuft für ihn, nach eigenen Aussagen, „alles nach Plan“. Und es gibt keine Anzeichen, daß er bereit wäre, auch nur ein Jota von seinen Forderungen abzurücken. Eher im Gegenteil. Die Vorschläge aus dem Kreml werden immer bizarrer – etwa humanitäre Korridore doch nach Belarus oder Russland zu leiten. Die Welt rätselt also weiter über Putins Motive und zweifelt mehr und mehr an seinem Verstand. Niemand wäre ernsthaft betrübt, würde sein Botoxface während eines Propaganda-Videos im Zeitraffer plötzlich knittern, erodieren und zu Staub zerfallen – als hätte er aus dem falschen Gral getrunken.
Aus den düsteren Abstellkammern der russischen Geistesgeschichte
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hingegen legt eine andere Spur (sp-online vom 2. März 2022). Er diagnostiziert, Putin ist nicht verrückt, sondern handelt sogar ausgesprochen konsequent. Und zwar ganz im Sinne einer fremden Mystik, wie sie nicht einmal in „Games of Thrones“ dauerhaft erträglich war, im Sinne einer Ideologie, für die der Endkampf zwischen „Eurasiern“ und „Atlantikern“ unmittelbar bevorsteht. Russland als „geistig-kulturelle Alternative zum kranken Westen“; Putin als „Leitfigur einer globalen völkisch-autoritären“, einer „faschistischen Bewegung“, die offensichtlich den gegenwärtigen waffentechnologischen Vorsprung dank ihrer Hyperraketen nutzen will, um eine neue Weltordnung zu erzwingen. Auf einem Parforceritt durch die düsteren Abstellkammern der russischen Geistesgeschichte (in denen auch Dostojewski bisweilen spukt) macht Leggewie mit den Vordenkern, den Souffleuren, den Stichwortgebern eines „Denkens“ bekannt, in deren Reihen freilich auch – wen wundert’s – Großdenker wie Ernst Jünger, Oswald Spengler, Martin Heidegger, Carl Schmitt oder der italienische Kulturphilosoph Julius Evola eingestreut sind. Vermutlich würde aber auch Leggewie nicht darauf bestehen, sich intensiv mit dem derzeitigen „Moskauer Hofphilosophen“ Iwan Alexandrowitsch Iljin (1954 gestorben) oder Nationalbolschewisten wie Alexander Dugin, den faschistischen Mystiker Evgenij Golovin, dem Schriftsteller Eduard Limonow oder dem Publizisten Alexander Prochanow zu beschäftigen. Es reicht wohl vorerst, die Namen einmal gehört zu haben, zu wissen, daß sie nicht nur Eindruck auf Putin, sondern auch auf Salvini, Le Pen oder Gauland machen und ein Weltbild aus stets vergifteten Gegensätzen vertreten, etwa dem zwischen Ost und West, Tradition versus Moderne, Gut gegen Böse, mit „Amerika als Hauptfeind“ – und dessen wichtigsten Verbündeten, Nato, EU.
Es ist hier nicht darum zu tun, Leggewie zu referieren, es ist eher darauf zu verweisen, was er nebenbei, gewissermaßen heuristisch anbietet. Wenn er anführt, daß in Prochanows Bestsellerroman „Herr Hexogen“ die Geschichte aufgetischt wird, „Juden würden gesunden Russen Blut und Organe entnehmen, um sie an Kliniken in Israel zu verkaufen“, dann denkt man in unseren Kreisen wohl unweigerlich an „Pizzagate“ oder diverse Verschwörungserzählungen von Q-Anon. Ob überhaupt oder wer von wem zu derartigen Phantasmagorien angeregt wurde, darüber sollte man gar nicht erst nachsinnen, liefe man doch Gefahr, sich mit, wenn auch anderem Vorzeichen, auf das nämliche Niveau zu begeben. Das tut auch Leggewie nicht; er generiert allenfalls, ob absichtlich oder nicht, die entsprechenden Assoziationen.
Echt, nicht staatschinesisch
Danach gibt es, was zunächst wohl gar nicht so bewußt ist, derartig abstruse vor allem auch ähnliche Geschichten dem Anschein nach weltweit und zunehmend häufiger. Wenn die Versuche einer ganzen Reihe von Staatschefs, einem mit weithin erwiesenen Falschmeldungen auftretenden Putin in persönlichen Gesprächen oder Telefonaten ein Entgegenkommen abzuringen, sich als vergeblich erweisen, kann der Verdacht aufkommen, daß hier gegen ein ähnliches Phänomen angerannt wird, wie einen Trump-Fan davon zu überzeugen, daß Trump die Wahl verloren hat. Wer einmal an Chemtrails glaubt, das lehrt die Erfahrung, ist nicht mehr so leicht davon zu überzeugen, daß es sich um Unsinn handelt, es sich bei 9/11 eben nicht um einen Inside-Job handelte, oder ein Butterfly Center am Rio Grande keine klandestine Schaltstelle mexikanischer Kartelle für Kinderhandel und sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist. Gemeinsam ist all diesen Fällen, zumindest nach weit verbreiteter Ansicht, daß fast nie ein Gespräch, tatsächlich ein Dialog stattfindet; es prallen nicht einmal Argumente aufeinander, sondern bestenfalls, im Großen wie im Kleinen, Machtpositionen, Interessensgegensätze. Es gibt keinen rationalen Wettstreit und insofern kann strenggenommen nicht einmal entschieden werden, wer recht hat, wer näher an der Wahrheit ist, sondern allenfalls auf welcher Seite sich die Mehrheit sammelt. Was rational, vernünftig, was wahr ist, entscheidet sich stets in Bezug auf ein größeres Ganzes, das jedoch menschenmöglich nicht zu überblicken ist. Es sei denn, man nimmt das einfach für sich in Anspruch. Ist Irrer, ist Gott oder unumschränkter Gewaltherrscher. Letztere haben die Möglichkeit, sich mit Aeroflot-Stewardessen zu schmücken und jeden Widerspruch zu verbieten und auszumerzen, während die Attila Hildmanns mit erheblichen kognitiven Dissonanzen zurechtkommen und sich vor Umwelteinflüssen im wahrsten Sinne verschließen müssen – mit übrigens auch immer irrwitzigeren Erzählungen.
In beiden Fällen aber geht es um eine Radikalisierung der je eigenen Interessenswahrnehmung, die vor einem korrupten, inneren Gerichtshof zu legitimieren ist. Das eigene Tun und Denken ist zu legitimieren, weil es sonst nicht stattfindet. Aber es wird nicht anhand von Außenkriterien, sei es die Großmutter oder Einstein, geprüft und bewilligt, sondern einzig und allein, weil man selbst es tut bzw. denkt. „Etwas ist gut und richtig, weil ich es tue und denke.“ Die Legitimationsstruktur von Verschwörungsdichtern und Diktatoren ist eine zirkuläre. Was immer an Content (so heißt das) einen Weg in ein solches System findet, bestätigt es, weil es ein geschlossenes System ist, in dem es nichts geben kann, das nicht stimmiger Bestandteil des Systems ist. So ungefähr – vielleicht sollte hier einmal kurz betont werden, daß diese Ausführungen nicht den Anspruch erheben, wirklich wahr zu sein. Sie sind lediglich der Versuch, mit Nachrichten aus einer Welt fertigzuwerden, ohne daran irre zu werden. Es sind lediglich Überlegungen. Es könnte sich so oder so ähnlich verhalten, müßte aber bewiesen werden.
Zumal daran auch beängstigende Konsequenzen geknüpft wären. Eine zirkuläre Legitimationsstruktur, eine radikalisierte Interessenswahrnehmung ließe sich nämlich zumindest zunächst auf zivilisierte Weise nicht aufbrechen. Sie kann eigentlich nur untergehen (und andere mit in den Untergang reißen) wie das nationalsozialistische Deutsche Reich; sie kann an Paradoxien „erkranken“, indem etwas passiert, das zugleich zum System gehört und das System zerstört, und sie kann von symbolischen Handlungen, sagen wir von Liebe, aus ihrem eigenen Käfig befreit werden. Aber wer möchte Putin umarmen, also richtig, echt, nicht staatschinesisch?