Ausgabe September / Oktober 2020 | Wissen & Können

Abgetaucht

Wassersport in Nürnberg? Schwimmen? Ja, klar! – Auch Segeln und Rudern kann man vor Ort. Wenn auch nur auf dem Dutzendteich, wegen seiner äußerst bescheidenen Ausmaße als „größtes Binnengewässer Europas“ verspottet. – Aber Tauchen? In Nürnberg? Wo denn das? Außer der Pegnitz (da reicht die Tiefe nicht) und kleineren stehenden Gewässern gibt es hier doch nichts! Außerdem „koo me in suu anne Bräi nix seeng“, muß der tauchwillige Nürnberger resigniert fest­stellen.

Text: Gunda Krüdener-Ackermann | Fotos: Privat / Till Krüdener

Dennoch ließen sich die Nürnberger Tauchbegei­sterten von den geographischen Mißlichkeiten ihrer Heimatstadt nicht abhalten. Irgendjemand kam bereits 1887 auf die seltsam anmutende Idee, in Nürnberg eine „Privatgesellschaft Taucherclub“ zu gründen. Sicher ist jedoch, daß alle Mitglieder damals mit nichts anderem als dem Wasser der heimischen Badewanne in Kontakt kamen. Man scheint wohl eher in dieser illu­stren Herrenrunde auf Tauchstation vor den Ehe­frauen daheim gegangen zu sein.

So richtig ging’s mit dem Nürnberger Tauchfieber erst nach dem Zweiten Weltkrieg los. Nutzlos lag bei manchem wohl noch eine alte Gasmaske rum. Vielleicht taugte die auch, um damit abzutauchen? Die große Begeisterung für den Unterwassersport, die in den 50er und den 60er Jahren richtig Fahrt aufnahm, war – modern gesprochen – ein Medienhype. Pionier war hierbei sicherlich der gute, alte Phantast Jules Vernes, dessen verfilmter Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“ 1954 in die Kinos kam. Auch der österreichische Meeresforscher Hans Hass mit seinen spektakulären Filmen „Menschen unter Haien“ oder „Abenteuer im Roten Meer“ wurde damals quasi zum „Influencer“. Mit den in jenen Jahren noch rar gesäten Fernsehapparaten konnte mancher auf der medialen Meereswoge sogar zu Hause mitschwimmen. Denn einmal wöchentlich flimmerte die amerikanische TV-Serie „Abenteuer unter Wasser“ (Sea Hunt) über die Mattscheibe. Nervenzerreißend waren da die Kämpfe des (guten!) Tauchers Mike, der in den Meerestiefen für Ordnung sorgte. Gefährliche menschliche Widersacher ertranken mal gerne eingeklemmt in ein altes Schiffswrack. Auch mit den Vorfahren des unersättlichen „Weißen Hai“, wurde Mike spielend fertig.

Flossen, Maske, Schnorchel

Der 20jährige Nürnberger Walter Müller war vor allem von Hans Hass begeistert und wollte es ihm gleichtun. Daß mit seiner Sehnsucht nach Unterwasserabenteuern in Nürnberg nichts auszurichten war, hatte er gleich erkannt. Daher schnappte er sich im Frühjahr 1956 seine 250er Zündapp und tuckerte Richtung Ägypten. Den Probelauf für das Rote Meer hatte er zuvor in einer gefluteten Nürnberger Baugrube absolviert. Im Test auch seine selbstgebastelte Unterwasserkamera. Um viele Erfahrungen reicher, allerdings nur mit einer einzigen harmlosen Hai-Begegnung, kehrte er acht Wochen später als gefeierter Star in seine Heimatstadt zurück. Leider riß ihm ausgerechnet auf seiner Jubelfahrt – oder zum Glück erst da – in der Schweiggertstraße die Kupplung seiner Zündapp. Müller sollte später zum 2. Vorsitzenden der Nürnberger Sporttaucher werden, die am 27. Januar 1962 den Deutschen Unterwasser-Club Nürnberg e. V. (DUC Nürnberg) gründeten. Die damaligen Mitglieder waren echte Pioniere. Denn all die Annehmlichkeiten des modernen Sporttauchens kannte man noch nicht. Meist begnügte man sich mit der sog. ABC-Ausrüstung: Flossen, Maske, Schnorchel. Folglich tauchte man nur solange ab, wie die eigene Luft reichte. Moderne Preßluft-Tauchgeräte ersetzten erst allmählich die alten Kreislauf-Tauchgeräte, die ursprünglich zur Rettung von U-Boot-Besatzungen verwendet wurden. Es gab weder Tiefenmesser, Finimeter (Druckmeß­geräte) oder Taucheruhren. Auch Druckkammern waren Fehlanzeige, die heute im Falle einer zu schnellen Druck­entlastung beim Auftauchen Leben retten können. Und Neoprenanzüge? Welch ein Luxus!

Aber schon im Vorfeld der Vereinsgründung hatten sich immer wieder Nürnberger Tauchbegeisterte gemeinsam auf Reisen begeben. Gerne fuhr man Richtung Elba oder zur nördlich von Sizilien gelegenen Vulkaninsel Stromboli. Schon bald wagte man sich auch auf Touren ins Rote Meer. Umfangreiches Material, das die Leistungen der Nürnberger Taucher dokumentiert hatte, ging leider durch den frühen Tod des Unterwasserfotografen Werner Fuchs verloren. Denn dessen Schwester hatte wenig später kurzerhand dessen ganzes Taucher-Graffl entsorgt.

Gorgosia sillneri

Zwar als weltbester Unterwasserfotograf des Jahres 1969 ausgezeichnet, ist auch der Nürnberger Ludwig Sillner heute fast vergessen. Im wesentlichen war der ein Einzelgänger, dem sich mitunter Mitglieder des Nürnberg DUC auf seinen Expeditionen anschlossen. Seine Begeisterung fürs Tauchen vor allem im Roten Meer ist einer Mixtur aus Karl-May- und Unterwasser-Abenteuern geschuldet. Romane wie „Die Sklavenkarawane“ oder „Der Mahdi“ ließen ihn letztendlich Islamwissenschaften und arabische Sprachen studieren. Die Faszination Meer packte ihn zum ersten Mal als Kind auf der Insel Sylt. Im Zweiten Weltkrieg wurde er als Bildberichterstatter auf ein U-Boot in den Südatlantik kommandiert. Das prägte die Nürnberger Landratte, um sich später zum profunden Kenner des Roten Meeres sowie seiner Korallenriffe – aber auch der arabischen Bevölkerung zu entwickeln. Vor allem Sillners Unterwasserfotos sollten begeistern. Schon 1964 im Club Nautique in Djibouti, zu dieser Zeit noch Hauptstadt von Französisch-Somalialand, zeigte der Nürnberger Farbbilder seiner Unterwasserexpedition ins Rote Meer. Die sah auch der Direktor der kolonialen Postverwaltung. Begeistert schlug der seiner übergeordneten Behörde im fernen Paris vor, von Sillners Fotos eine Briefmarkenserie für die Kolonie herauszubringen. Ab 13. Mai 1966 wurden die ersten vier und am 14. Oktober 1966 noch weitere drei Marken an somalischen Postschaltern verkauft. Briefe aus dem tiefsten Afrika wurden mit Sillner-Motiven frankiert!

In seinem Buch „Ein kleiner Sprung ins große Meer“ (1968) erzählt Sillner einer interessierten Leserschaft von seinen Erlebnissen rund ums Rote Meer. Natürlich sind es auch bei ihm die Haie, die ihn gruselig fesseln. Nie weiß er, ob sie ihn aus Neugierde oder aus Freßgier in immer engeren Kreisen umschwimmen. Als Gegenwehr empfiehlt er laute Schreie, Fußtritte oder Schläge mit der Harpune. Man könne aber auch ins Wasser pinkeln (vor lauter Angst wohl die einfachste Übung!), denn Haie seien olfaktorisch empfindlich, so Sillners Erfahrung. Fasziniert berichtet er auch von der Artenvielfalt der Riffe im Roten Meer: von den orangefarbenen Clownfischen mit ihrer hellblauen Bauchbinde, den knallgelben Zitronenfischen, den tiefblauen Doktorfischen, den rot-weiß gestreiften giftigen Feuerfischen … und dann entdeckt er da unten auf dem Meeresgrund etwas Sonderbares! Hunderte von dünnen Schlangenleibern ragen aus dem sandigen Meeresboden. Wie nach den Klängen von Sphärenmusik scheinen sie sich im Takt zu wiegen. Bei Gefahr bohren sie sich blitzschnell zurück in den Sand. Es war Sillner, der auf diese seltsamen Kreaturen – Sandaale – als erster aufmerksam wurde. Seit 1962 sind sie nach ihm benannt: Gorgosia sillneri!

Das Highlight in Sillners Leben

Unterhaltsam für den damaligen Leser sind vor allem auch Sillners Erlebnisse mit der dortigen arabischen Bevölkerung. Noch mal gut gegangen war die Havarie seines Expeditionsbootes. An Bord ein ägyptischer Steuermann, der das Schiff auf ein Riff hatte laufen lassen. Nach gemeinsamem Studium der Seekarten war klar, die Untiefe war eigentlich kartographisch erfaßt. Kleinlaut mußte der Kapitän bekennen, daß er ein Armeemajor sei und keinerlei nautische Kenntnisse hatte.

In einer anderen Episode beschreibt Sillner seinen tollkühnen Coup, orientalische Bürokratie kurzerhand auszuhebeln. Die Forderung einer sudanesischen Zollstation, er habe alljährlich seine Pockenimpfung zu erneuern, war seiner Ansicht nach ein willkürlicher behördlicher Akt, der ihn nur an der Weiterreise hinderte. Kurzerhand mißbrauchte er ein Fünf-Mark-Stück, das auf seiner Rückseite nichts als den Bundesadler zeigte, als Behördenstempel und „aktualisierte“ damit seinen Impfpaß. Das Highlight in Sillners Leben war zweifellos seine Begegnung mit Jacques-Yves Cousteau (1910 – 1997). Beeindruckt haben ihn die Visio­nen dieses weltberühmten Meeresforschers. Denn parallel zur damaligen Eroberung des Weltraums ver­suchte der durch den Bau einer ­Unterwasserstation die Meerestiefen als menschlichen Lebensraum zu erschließen. Als größtes Abenteuer seiner Taucherkarriere bezeichnete Sillner, als ihn Jacques Cousteau im Frühjahr 1967 an Bord seines Forschungsschiffes „Calypso“ mit zu einer Expedition in den Indischen Ozean nahm. Die Atolle der Malediven, die Seychellen … das wahre Taucherparadies! Im November 1972 begab sich Sillner nochmals von Port Sudan aus mit zwei anderen Nürnberger Hobbytauchern (Heinz Eder und Gerhard Füglein) im Roten Meer auf Cousteaus Spuren. Kurz darauf, im Februar 1973, stirbt Sillner gerademal fünfzig­jährig bei einem Autounfall.

2020. – Die Nürnberger Tauchpioniere sind im übertragenen Sinne des Wortes heutzutage völlig „abgetaucht“. Kaum einer kennt sie noch, von denen Ludwig Sillner immerhin sogar Weltruhm erlangte. Vielleicht Zeit, sie ein wenig aus den Tiefen des Vergessens wieder auftauchen zu lassen.

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