„Deckname Antenne“
Seit 42 Jahren ist Eberhard Schellenberger die charakteristische Stimme und seit 1996 als Redaktionsleiter der maßgebliche Kopf des „Regionalstudios Mainfranken“ des Bayerischen Rundfunks in Würzburg. Nun geht er nach einem reichen Journalistenleben in den Ruhestand – und bleibt natürlich in Würzburg.
Text: Eva-Suzanne Bayer | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Hat man einen Sprecher oder einen Journalisten eine Zeit lang im Funk gehört, zeichnet die Phantasie unweigerlich ein Porträt des Unsichtbaren. Trifft man ihn endlich persönlich, ertappt man sich oft bei Fehlschlüssen. Der markante Stimmträger entpuppt sich als farbloser Biedermann, die vermeintlich sanfte Seele ähnelt einem Türsteher und der imaginierte Latin Lover sieht aus wie ein Frettchen. Was freilich viel über die Vorurteile des gedanklichen Porträtisten aussagt. Bei Eberhard Schellenberger deckt sich der Ton so exakt mit dem vorgefaßten Bild, daß ich schwören könnte, ihn schon lange in natura zu kennen: groß, kräftig, besonnen und gleichzeitig temperamentvoll, absolut zuverlässig, bodenständig, ein Schalk in den Augen. Kurz, ein Franke, wie er im Buche steht, das der Realität nicht immer standhält. Wir treffen uns in seinem Büro im Studio Mainfranken im 9. Stock des Posthochhauses mit Blick über den Bahnhofsplatz und die Stadt, was für einen Journalisten ein durchaus symbolischer Standort ist. Mittendrin und doch mit gutem Überblick. Daß ein ausgefuchster Fragenkatalog bei so einem gewieften Journalisten (seit Kindesbeinen, wie sich herausstellt), Redakteur und Redaktionsleiter obsolet ist, bemerke ich schnell. Schellenberger weiß selbst zu genau, was ein Interviewer in dieser Situation wohl in petto hat und ganz wie von selbst gleitet das Gespräch in exakter Dramaturgie von einem Kernthema zum nächsten, angereichert mit vielen Geschichten.
„Würzburger Modell“
Geboren 1957 in Bamberg, aufgewachsen in Zeil am Main, hörte Eberhard Schellenberger gern Radio und schwallte seine gesamte Umgebung, wie er erzählt, schon als Kind mit nachgestellten Reportagen regelrecht voll. Später fi el ihm auf, daß der Rundfunk alles über die Welt, aber nichts über „seine“ Welt, die Haßberge, berichtete. Um zu erforschen, wieviel auch hier geschah, volontierte er am „Haßfurter Tagblatt“. Seine erste Radioreportage behandelte im Oktober 1978 ein amerikanisches Truppenmanöver „bei dem fast 5000 Fahrzeuge tagelang die Äcker umwühlten“. Während seiner Schulzeit im Internat am Bodensee arbeitete er bereits als Berichterstatter für den „Südkurier“ und die „Schwäbische Zeitung“. Damit war sein Berufsschicksal in die Bahnen gelenkt. 1977 war unter energischem Protektorat des Intendanten des BR Reinhold Vöth und dem Rundfunkratsvorsitzenden Willi Fritz, beide gebürtige Franken, als „Würzburger Modell“ die sich später sich zum „Regionalstudio Mainfranken“ mausernde „Welle Mainfranken“ eingerichtet worden. Drei Redakteure, eine Technikerin und eine Sekretärin nahmen sich der Belange im Regierungsbezirk Unterfranken („von Fladungen bis Aub im Ochsenfurter Gau, von Eltmann bis Alzenau“) an und verliehen der unterrepräsentierten Region Stimme, Gewicht und ein Identitätsforum. Die Bezeichnung „Mainfranken“ erhielt zuerst keinen einhelligen Beifall. Zu sehr war er mit brauner Wortbrühe übergossen. Doch der Begriff ist viel älter, hat kulturellen Ursprung und bürgerte sich schnell (wieder) ein. In dieser Gegend läge nicht alles am Main, bemängelten besonders die Rhön- Grabfelder. Aber, so Schellenberger: „Die Saale fließt schließlich auch in den Main. Und dem Main gefällt es gerade in Unterfranken so gut, daß er sich hin- und herschlängelt, um ja nicht so bald aus Unterfranken wegzumüssen.“
Das „gallische Dorf“ in Bayern Wie dem Main, so ging es auch Schellenberger. Einmal in Würzburg, wollte er nie wieder weg, trotz anderer Angebote, trotz dadurch fehlender externer Karrieresprünge. Was natürlich so nicht stimmt. Nachdem er seit 1980 im Regionalstudio arbeitete, wurde er 1983 Redakteur, 1996, in Nachfolge zu Siggi Müller, Redaktionsleiter in Würzburg mit heute 50 Mitarbeitern und zwei kleinen, weiteren Studios in Mainfranken. „Ich hab´ das gemacht, bevor ein Münchner oder gar ein Nürnberger sich hierhersetzt“, scherzt er, auf den Expansionseifer Münchens anspielend und auf die traditionelle Haßliebe der Würzburger zum allzu raumgreifenden Nürnberg. „Die Mainfranken sind was Besonderes“, sagt er, sie seien eigenständig, dickköpfig und bei aller Geselligkeit und Weinseligkeit, auch rebellisch. „Sozusagen das ´gallische Dorf´ in Bayern“. Doch auch Privates hält ihn hier fest. Seine Frau, eine gebürtige Schwäbin, entdeckte schon als Teenager in Würzburg ihre Lieblingsstadt und wollte unbedingt hierbleiben. Sie „erdet“ (Schellenberger) ihn auch in zwiefacher Bedeutung, zum einen im fränkischen Heimatboden, zum anderen im normalen Alltag. Denn er selbst neige schon zum Workaholic. Eine kleine Finca an der Costa Brava steht sicherlich nicht auf dem Wunschprogramm des baldigen Ruheständlers.
Vieles hat sich verändert während der langen Laufbahn von Eberhard Schellenberger – vor allem die Technik beim Medium Funk. Noch 1995/96 standen gerade mal zwei Computer im Büro. Zu den zahlreichen Liveterminen schleppte er ein schweres Tonbandgerät mit begrenztem Aufnahmevolumen. Im Studio wurden die Bänder per Hand geschnitten, einzelne Schnipsel an die Bandmaschine geklebt, um sie nach ohrschlüpfriger Dramaturgie später zusammenzumontieren. „Ein Windstoß und alles flog durcheinander“ erinnert sich Schellenberger. Oder man schickte Texte per Lochstreifen, quasi als Hörtelegramm, nach München. Elektronische Frühantike!
Alles ist sofort im Netz
Heute steckt eine Speicherkarte direkt im Mikro. Schiebt man sie in den Computer, liefert der eine schriftliche Fassung von dem, was man früher vom Band mühsam mit der Schreibmaschine transkribieren mußte – wobei oft abenteuerliche Wortschöpfungen herauskommen, spricht ein Interviewpartner im Dialekt. „Durch die Technik ist vieles leichter geworden – aber auch viel schneller“. Und unübersichtlicher, denn das Internet und die zahllosen User reagieren flott auf jede Neuigkeit. Alles ist sofort im Netz, ohne auf Relevanz oder Wahrheit geprüft zu sein. Die Aufgabe des Journalisten hat sich, so Schellenberger, kaum geändert. Er/sie ist in den Berichterstattungen nach dem Standeskodex, hochtrabend „Moral“ genannt, nach wie vor der Neutralität verpflichtet, muß alle zu Wort kommen lassen, jede Seite hören, nachfragen und „von weiteren zwei, besser vier Augen überprüfen lassen“ (Schellenberger), ob die Sache hieb- und stichfest ist. Nur in „Kommentaren“ kann eine persönliche Meinung ins Kraut schießen. Und Gerüchte sind ohnehin tabu. Aber ist es nicht schwierig, die Neutralität zu bewahren, wenn andererseits Nähe zu den Menschen und ihren Problemen angestrebt werde? „Nach so vielen Berufsjahren kennt man seine Pappenheimer, weiß, wer ehrlich und glaubhaft ist.“ Auch dürfe man sich nicht von Interessen lenken lassen (der BR muß keine Rücksicht auf Werbekunden nehmen) oder jedem, zwar publikumswirksamem, aber keineswegs verifizierten Skandal nachjagen. Dadurch gewinnt man sich freilich nicht nur Freunde. Aber „mit der Zeit habe ich mir ein dickes Fell wachsen lassen!“ sagt er.
„Corona wird vieles nachhaltig verändern!“
Viele Dauerbrenner gab es im Programm während Schellenbergers Dienstjahren. Das Mozartfest und die Kickers ohnehin, die Radio-Mainfrankentour, die seit Jahren im Sommer aus allen neun Landkreisen berichtet oder die Sendungen aus dem Rathaussaal Lohr, in dem die Lohrer Spinnstube regelmäßig traditionelle Handwerke – wie Müller, Bäcker, Metzger oder Gerber – mit typischen Handwerkszeugen, Produkten und Liedern vorstellte. Ein Riesenerfolg! Aber es gab auch viele einmalige Ereignisse, die das Denken hierzulande auf den Kopf stellten. Die jeweiligen „Jahrhunderthochwasser“ (ein Wort, das Schellenberger nicht durchgehen Abgestaubt! Schätze aus dem Depot Sonderausstellung bis zum 13.09.2020 Aktuelle Informationen unter: www.museen-miltenberg.de Anzeige ließe). Das Axt-Attentat im Juli 2016 in der Regionalbahn zwischen Ochsenfurt und Würzburg. Besonders aber die Grenzöff nung zur DDR und nun Corona, am Ende von Schellenbergers Karriere. „Corona wird vieles nachhaltig verändern!“ meint Schellenberger. Die Zukunft gehört zum Teil dem Homeoffi ce, den Videoschaltungen für Konferenzen, dem virtuellen Kontakt untereinander – wo es genügt. Das bedeutet dann einige Dienstreisen weniger. Gerade bei der Beziehung zur ehemaligen DDR und zur „Wende“ ist Schellenberger voller Geschichten. Mehrfach passierte er die deutsch- deutsche Grenze, um über Würzburgs Partnerstadt Suhl in Th üringen zu berichten oder, 1985, um den Wiederaufbau Dresdens mit dem Würzburgs zu vergleichen – selbstverständlich in Begleitung eines „inoff ziellen Mitarbeiters“ (IM) der DDR. Daß er und der IM, wiederum observiert wurden, entdeckte er, als er sich nach der „Wende“ mit einer dickleibigen Stasi-Akte („Deckname Antenne“) konfrontiert sah, die von skurrilen Fehlern zu seiner Person (er war u.a. als „weiblich“ eingeordnet), Unterstellungen und Falschinterpretationen geradezu wimmelte. Telefonate wurden abgehört und mitgeschrieben – und zwanzig Jahre nach dem Termin 1985 kamen noch weitere Meldungen hinzu.
Mensch unter Mitbürgern
Darüber und vor allem über die Umsturzzeit in der DDR möchte Schellenberger vielleicht doch noch ein Buch machen, so als Lesebuch mit vielen Dokumenten und Texten, obwohl er sich sonst ganz aus dem Berufsleben zurückziehen will. Auch eine Arbeit als freier Mitarbeiter kommt für ihn nicht in Frage. „Eine innere Stimme, sagt mir, es ist jetzt Zeit zu gehen.“ Und auf Stimmen soll man als Radiomensch dringend hören. „Ich habe eine tolle Truppe zusammengehalten, die ein Wir-Gefühl entwickelt hat – und eine gute Truppe nachgezogen“, zieht er Bilanz.
Obwohl er sich noch nicht vorstellen kann, wie er den Ruhestand bewältigen wird, für kleinere Abwechslungen sorgen wohl die Familie mit drei erwachsenen Kindern, die nicht in Würzburg leben, und ein Enkel. Nach wie vor wird er Heimatgefühle erleben, wenn er von Unterdürrbach, wo er wohnt, den Steinberg hinunterradelt, nun freilich nicht mehr ins Studio, sondern zu einem Ort, wohin ihn seine persönliche Neugier zieht. Oder wenn er in der Rhön am Kreuzberg wandert oder von der Vogelsburg hinunterschaut auf die Mainschleife. Und wenn er sich mit Nachbarn trifft, mit denen er sich wohlfühlt und bei denen er „ein normaler Mensch unter Mitbürgern“ sein kann. Denn obwohl er, wie alle Berufsgenossen „Journalist rund um die Uhr“ war, war es ihm „richtig peinlich“, nagelte man ihn unterwegs auf seinen Beruf fest, inszenierte ihn als Platzhirsch oder gar als Bürgerschreck. „Vor mir soll nie jemand Angst haben“, war und ist sein Motto. Und „Angst“ ist wirklich das letzte, was einem, ihm gegenübersitzend, überkommt. Das ist wohl auch ein Grund, weshalb ihm Interviewpartner freimütig Hirn, Herz und Mund öffneten.