Ausgabe Juli / August 2020 | Soziales

„Ich werde nicht mehr gewünscht auf der Straße“

Ausgangsbeschränkung, Klopapier-Hamstern und flächendeckendes Desinfizieren – das Coronavirus wirkt sich weltweit auf Milliarden von Menschen aus. In einer Zeit von Social Distancing und #Wirbleibenzuhause-Hashtags trifft es die Menschen ohne Wohnung ganz besonders. Doch die Situation in Nürnberg ist nicht so verfahren, wie sie scheint.

Text: Juliane Pröll | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Stefan Gerber* wohnt im Domus Misericordiae – dem Haus der Barmherzigkeit. Das Gebäude in der Pirckheimerstraße von Nürnberg gehört dem Caritas-Verband und gibt wohnungslosen Menschen Unterkunft. Hinter der prachtvollen Fassade des historischen Hauses, hinter den großen Türen mit den gußeisernen Türklopfern gehalten von Löwenköpfen, wohnen momentan zehn Menschen, die keine eigene Unterkunft mehr haben. Genau wie Stefan Gerber. Der 66jährige engagiert sich im Domus und hilft bei der Einteilung der Notübernachtungsstellen mit. Er spricht sehr artikuliert und bedacht, trägt ein rot-kariertes Hemd, eine Brille und sieht rundum gepflegt aus. Niemand, der ihn auf der Straße treffen würde, käme auf die Idee, er wäre ohne eigene Wohnung. Aber die Obdachlosigkeit hat ihn selbst getroffen, und er kennt die Probleme: „Ich habe gestern noch einige Leute von der Notschlafstelle gefragt. Also das Gros, das dabei herauskommt, ist: Man kann nirgendwo hingehen, man kann sich nirgendwo mit Abstand aufhalten.“ Besonders während der Anfangszeit sei es mit der Ausgangsbeschränkung schwierig gewesen.

Hauptsache gesund

Einer, der sich derzeit in der Notübernachtung des Domus aufhält, ist Olaf Ziegler*. Der 77jährige hat im Februar 2020 seine Wohnung verloren. Gerade als sich das Corona-Virus in Deutschland immer schneller ausbreitete. Ziegler ist in die Pirckheimerstraße gekommen, nachdem er kein Dach mehr über dem Kopf hatte und schläft seitdem in der Notübernachtung. Dort kann er seine Wäsche waschen, bekommt Frühstück und Abendessen. Tagsüber hält er sich im Freien auf. „Ich habe vor Corona keine Angst“, sagt er. „Ich rede mit den Menschen. Wenn sie mir unbekannt sind, mit Abstand. Aber Angst habe ich keine.“ Die Treff – punkte der Obdachlosen wie den Hauptbahnhof meidet er. Er trägt eine Gesichtsmaske, wenn er muß, zum Beispiel in Geschäften. Die Notwendigkeit der Masken ist ihm bewußt, aber er mag den Gesichtsschutz trotzdem nicht. „Ich bin gesund, da bin ich froh drüber“, sagt Ziegler. „Mir fehlt von oben bis unten nichts. Das Laufen geht ein wenig schwer.“ Am meisten wäre ihm mit einer eigenen Wohnung geholfen. Aber die zu finden, ist schwierig mit seiner kleinen Rente. „Finden Sie mal eine Wohnung für 200, 300 Euro“, sagt er. „Die gibt es nicht. Da hat‘s gleich 450, 500 Euro. Dann kommen noch die Nebenkosten dazu. Was bleibt denn zum Leben?“

Nicht nur ihm wäre mit einer Wohnung geholfen. Vor allem, weil es seit dem Ausbruch von Covid-19 für die Obdachlosen noch weniger Platz zu sein scheint. Wenn Leute auf der Wiese am Archivpark unweit vom Domus oder alleine auf der Straße standen, sind sie von der Polizei vertrieben worden, erzählt Gerber. „Aber sie mußten sich ja auf der Straße aufhalten, es gab nicht viele Möglichkeiten. Ich werde nicht mehr gewünscht auf der Straße, so hat es sich angehört“, gibt er den Tenor wieder. „Das war das größte Problem für die Leute, daß sie nicht gewußt haben, wo sie hin sollen. Wo kann ich mich aufhalten, ohne, daß ich mich noch strafbar mache?“ Im Zuge dessen eröffnete die Stadt Nürnberg zwei ehemalige Asylunterkünfte, als Notschlafstellen für die Obdachlosen. Die Menschen können sich dort auch tagsüber aufhalten, was die Situation etwas entspannt. Andere Einrichtungen wie die Wärmestube mußten ihren Betrieb wegen Covid-19 dagegen herunterfahren.

Die Wärmestube wird seit rund vier Jahren von Manuela Bauer geleitet und ist eine Tageseinrichtung für Obdachlose. Sie ist an sechs Tagen in der Woche geöffnet. „Jeder Mensch, der Hilfe benötigt, kann hier einfach vorbeikommen“, erklärt die Leiterin. „Niemand braucht einen Termin, niemand muß sich anmelden oder in einer besonderen Art und Weise qualifizieren, ausweisen oder sonstiges.“ Die Wärmestube versorgt die Besucher mit alltäglichen Dingen, zum Beispiel mit Mahlzeiten oder gibt ihnen die Möglichkeit, Toiletten, Waschmaschinen oder Duschen zu nutzen. Zudem begleitet und berät die Einrichtung die Menschen sozialpädagogisch, unter anderem bei Leistungsansprüchen, Schuldenregulierung oder einem Drogenentzug. Während der Corona- Hochphase war eine persönliche Beratung allerdings nicht möglich, und die meisten Besucher verfügen nicht über die technische Möglichkeit für eine Online-Beratung. Oft scheitert es am Guthaben auf dem Smartphone oder am Alter und Zustand des Gerätes. In der Wärmestube wird nun ein Raum mit einem separaten Eingang zur Verfügung gestellt, in dem die Beratungen stattfinden.

Versorgung to go

Vor dem Ausbruch des Coronavirus mußten die Menschen die Wärmestube um 17 Uhr verlassen. Seit dem Ausbruch müssen sie um 15 Uhr gehen, damit die Einrichtungsräume gründlich desinfiziert werden können. Die Begrenzung der Besucheranzahl fand allerdings schon vor Corona statt, da die Zahl der Bedürftigen so stark gestiegen ist. „Die Zahl steigt im Prinzip seit den letzten zehn Jahren kontinuierlich an“, so Bauer. „Wir haben immer eine doppelt- bis dreifache Überbelegung in den letzten Jahren gehabt, gegenüber den vorhandenen Plätzen.“ Ungefähr 70 Plätze stehen für die Menschen im Innenbereich bereit. An besonders geschäftigen Tagen gibt die Wärmestube um die 200 Mittagessen aus. „Es war ein unglaubliches Gedränge. Daraus ist schon vor Corona gefolgt, daß wir uns ein anderes Konzept überlegen müssen, bis es eben eine zweite Wärmestube gibt“, so die Leiterin. Die gibt es bisher aber noch nicht.

Die Zelte der Obdachlosen entlang der Seine gehören seit vielen Jahren zum Stadtbild von Paris.

Deshalb wird die Einrichtung seit Herbst 2019 in Schichten betrieben: die ersten siebzig Personen dürfen vormittags rein, dann kommt der nächste Schwung am Nachmittag, um die Menschenmasse zu entzerren. Covid-19 hatte andere Auswirkungen auf die Einrichtung: Seit dem Virusausbruch werden nur noch Personen eingelassen, die „Platte machen“, also außen schlafen – zum Beispiel unter Brücken oder in Abbruchhäusern. Früher konnte sich die Wärmestube dagegen auch um Leute kümmern, die in prekären Wohnsituationen lebten, zum Beispiel in Pensionen oder bei Freunden und Bekannten untergekommen waren. „Alle, die eine Wohnmöglichkeit haben, versorgen wir ‚to go‘“, erklärt Bauer. Diese Besucher bekommen Mahlzeiten aus dem Fenster gereicht. „Wir haben eine Notversorgung, daß die Menschen überleben und das in einer einigermaßen würdigen Situation.“ Dazu gehören ein offenes Ohr für die Menschen und einige nette Worte.

Disziplin und Einzelzimmer

Auch die Heilsarmee mußte Maßnahmen ergreifen. Die Kleiderkammer sowie der Tagestreff wurden geschlossen, die Besuche eingeschränkt und der Küchenbetrieb mit Essensausgabe wurde komplett eingestellt. Momentan wird nur noch eingeschweißtes Essen an die rund 220 Bewohner ausgegeben. Hinzukommen noch zwei Übernachtungsstellen mit jeweils 30 Schlafplätzen. Insgesamt betreut die Heilsarmee in Nürnberg an die 300 Personen. „Eine der Errungenschaften der letzten Jahre ist, daß wir ausschließlich Einzelzimmer anbieten“, so Frank Hummert, Verwaltungschef der Heilsarmee. Mit den Einzelzimmern ist zumindest die soziale Distanz der Bewohner gewährleistet.

Den Menschen geht es überraschender Weise gut, sagt er. Die Situation bei der Heilsarmee sei entspannt. „Ich habe am Anfang eher Probleme mit Mitarbeitern gehabt, als mit den Bewohnern. Die waren sehr diszipliniert.“ Er wünscht sich in Zeiten von Corona und danach mehr alternative Angebote mit kleineren Wohneinheiten für Obdachlose und weniger Massenunterkünfte. Für die Obdachlosen sei die Situation schwierig. Masken könnten nicht gewaschen und desinfiziert werden.

Niemand fährt nach Ischgl

Die hygienischen Bedingungen auf der Straße machen es den Menschen sehr schwer, die Anforderungen der Corona-Regeln wie regelmäßiges Händewaschen und Desinfizieren einzuhalten. „Diese Menschen haben noch den Vorteil, daß sie relativ stationär sind. Da geht niemand nach Ischgl zum Skifahren und infiziert sich dort“, so die Leiterin der Wärmestube. „Es ist ein gewisser Schutz, daß der Kreis relativ geschlossen ist.“ Sie kann dem Ganzen noch etwas Positives abgewinnen: „Die Notschlafstellen der Stadt Nürnberg waren eigentlich die ganz große Errungenschaft dieser Krise. Das ist ein ganz großer Fortschritt. Es war anders auch nicht machbar. Sonst hätte man die Quarantäneverordnung nicht einhalten können. Denn es kann sich niemand von unseren Leuten in häusliche Quarantäne begeben oder soziale Distanz einhalten ohne Wohnung.“ Sie hoff t sehr, daß die Notschlafstellen der Stadt auch in der Zeit nach Corona erhalten bleiben. Denn sie bekommt von den Besuchern der Wärmestube viele positive Rückmeldungen über die Notschlafstellen: „Das ist das größte Glück, was ihnen passiert, ist, in den letzten Jahren, daß sie dort bleiben dürfen und zur Ruhe kommen können und einen Platz haben, wo sie hingehen können.“ Bisher ist das Fortbestehen der Unterkünfte am Dianaplatz nach Corona aber ungewiß.

Die Gabenzäune dagegen, seien eher problematisch, so Manuela Bauer. Es sei zwar eine schöne Idee, aber erfahrungsgemäß passiere es häufiger, daß das Ganze außer Kontrolle geriet, Lebensmittel in den Tüten schlecht werden, dem Wetter ausgeliefert seien oder der Zaun zur Müllablage würde. „Auch da kann auf die Hygiene überhaupt nicht geachtet werden“, so Bauer. Leuten, die helfen möchten, rät sie, sollten eher das etablierte, professionelle Hilfesystem unterstützen und den Einrichtungen Lebensmittel oder Geld spenden.

An Masken zu kommen, ist dagegen kein Problem. Viele Einrichtungen und Unterkünfte für Obdachlose geben Masken aus. Auch das Haus Misericordiae. Den Menschen auf der Straße wäre momentan mit Information und Akzeptanz aber am meisten geholfen, sagt Gerber. Positiv sei aber, daß trotz der unsicheren Lage das Domus sehr viel Unterstützung durch Sach- und Geldspenden bekommen hat. Ein anonymer Spender hat kürzlich sogar 100 Essen für das Haus bezahlt. Die Lage in Nürnberg ist also nicht so düster, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Schwierig ist sie für die Betroffenen und die Einrichtungen aber allemal.

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