Refugium für den Geier der Rhön
Der Rotmilan ist das heimliche Wappentier der Rhön, denn der inzwischen selten gewordene Raubvogel findet im „Land der offenen Fernen“ noch ideale Lebensbedingungen. Doch auch hier, in einem seiner deutschen Hauptverbreitungsgebiete, muß für den Erhalt der Habitate gekämpft werden. Entscheidende Impulse setzte das Arten-Hilfsprojekt „Rotmilan in der Rhön“.
Text: Sabine Haubner | Fotos: Martin Kremer
Der steile Aufstieg zur Platzer Kuppe im Landkreis Bad Kissingen lohnt sich unbedingt, wenn das Wetter mitspielt: Dann eröffnet sich auf dem 736,8 Meter hohen Plateau des südlichsten der Schwarzen Berge ein herrlicher Panoramablick über die Rhön, bisweilen bis zum Taunus. Die gute Aussicht schätzen nicht nur Ausflügler. Im Frühjahr und Sommer hat man hier gute Chancen, den Rotmilan über der offenen Landschaft kreisen zu sehen. Majestätisch gleitet der elegante Greifvogel, die langen, schmalen Flügel ausgebreitet, der gegabelte Schwanz in ständiger Steuerbewegung. Zwischendurch macht er einige weiche Flügelschläge, um Richtung und Höhe zu ändern, denn er scannt gerade die unter ihm liegende Wiese. Frisch gemäht ist sie ein einladendes Buffet für ihn. Spielerisch und anmutig wirken die Flugaktionen des größten heimischen Greifvogels nach See- und Steinadler mit einer Flügelspannweite von bis zu 175 Zentimeter. Selbst ungeübte Vogelbeobachter können ihn an seinen typischen Merkmalen erkennen. Sein Gefieder ist überwiegend rostrot gefärbt und zeigt an der Unterseite schwarze und weiße Felder. Unverwechselbar macht ihn sein großer, gegabelter Schwanz, von dem sich sein volkstümlicher Namen Gabelweihe ableitet.
Deutschland in der Verantwortung
Der ausgesprochen schöne Greifvogel ist selten geworden. Er kommt fast nur in Europa vor, von Spanien bis Südschweden leben geschätzte 25 000 bis 33 000 Paare. Status gefährdet, Tendenz abnehmend. Ganz anders in der Rhön: „Man kann ihn hier oft und fast überall zu Gesicht bekommen“, ist von Jan Knittel zu erfahren. Der Ranger im hessischen Teil des UNESCO-Biosphärenreservats Rhön bezeichnet den Rotmilan als „unseren heimlichen Wappenvogel“ und kümmert sich seit 2020 um die Population der bedrohten Art. Er führt damit die Arbeit des ambitionierten Arten-Hilfsprojekts „Rotmilan in der Rhön“ fort, das von 2014 bis 2020 im Rahmen des Bundesprogramms „Biologische Vielfalt“ länderübergreifend und unter Beteiligung der ARGE Rhön lief.
Daß sich das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit mit seinem finanzstärksten Programm des Rotmilans annimmt, kommt nicht von ungefähr. „In Deutschland leben mehr als 50 Prozent der europäischen Brutpaare“, weiß Knittel. „Deswegen haben wir hier auch eine besondere Verantwortung für diese Art.“ Anfang der 1990er Jahren gab es einen gravierenden Bestandseinbruch durch Intensivierung in der Landwirtschaft. Exemplarisch steht hier die Zunahme von großen Mais- und Rapsfeldern – die dicht und hoch aufwachsenden Monokulturen versiegeln quasi die Jagdgründe des Greifvogels. „Da sieht er keine Maus mehr am Boden rumflitzen“, drückt es Knittel aus. Deswegen sei für ihn die Rhön „als Land der offenen Fernen“ besonders geeignet. Die Kulturlandschaft hat einen hohen Grünlandanteil und setzt sich aus einem Mosaik von verschiedenen Bestandteilen wie Hutungen, blütenreichen Weiden, artenreichen Wiesen, Wäldern und Hecken zusammen. „In den Wiesen und Weiden findet der Rotmilan seine Nahrung, am Waldrand richtet er seine Kinderstube ein.“ Kein Wunder, daß die Rhön eines seiner Hauptverbreitungsgebiete ist. Und innerhalb dieser Kulisse ist ihm die hessische Seite besonders lieb. Die im vergangenen Jahr von Kartierern in einer Teilfläche gezählten 81 Brutpaare wurden hochgerechnet auf einen Bestand von 122 Paaren. Im bayerischen Teil des Biosphärenreservats wurden 62 Rotmilanhorste aktiv genutzt, davon im Landkreis Rhön-Grabfeld 35, im Landkreis Bad Kissingen 27.
Shakespeare warnt vor Wäschedieb
Der Milannachwuchs schlüpft ab Anfang Mai. Um diese Zeit sind die Zugvögel schon zwei Monate aus ihrem Winterquartier in Spanien zurückgekehrt. Zwischenzeitlich haben sie sich bei der Balz ins Zeug gelegt, in einem spektakulären Schauspiel, bei dem Männchen und Weibchen Synchronflug vollführen und sich gegenseitig attackieren. Danach stand die Suche nach einem geeigneten Brutbaum auf dem Programm. Am liebsten beziehen die Vögel ein bereits bestehendes Nest vom Vorjahr, das sie ausbessern und bizarr dekorieren: mit Plastiktüten, Wollfäden und anderen Fundstücken. Jan Knittel hat auch schon mal einen Handschuh am Horst entdeckt. Warum der Milan sich diese Marotte zugelegt hat, ist bislang ungeklärt, sie stellt jedenfalls eine Gefahr für seinen Nachwuchs dar, der sich etwa an den Fäden strangulieren kann. Schon im 16. Jahrhundert empfahl William Shakespeare in seinem Schauspiel „The Winter‘s Tale“: „Wenn der Milan sein Nest baut, paß‘ auf die Wäsche auf!“ Trotz Wäscheklaus waren die Greifvögel damals gern in Londons Straßen gesehen, denn sie dienten den Menschen als Hygienepolizei. Die Erklärung liefert der Ranger: „Sie sind Aasfresser und kümmern sich darum, daß verendete Tiere beseitigt werden.“ Daneben enthält der Milan-Speiseplan vor allem Mäuse und andere Kleinsäuger, aber auch Vögel, Regenwürmer, Reptilien und Insekten.
Freiwillige unverzichtbar
Vor allem bei der Nahrungsverfügbarkeit setzte das Artenhilfsprojekt an. Landwirte wurden für Maßnahmen gewonnen wie Grünlandextensivierung, mehr Brachen an Waldrändern, die Anlage von Altgrasstreifen und Blühflächen. Ebenfalls im Programm: gestaffelte Mahdzeiten, um ein konstantes Nahrungsangebot zu gewährleisten. Ausgleichszahlungen flossen aus den landwirtschaftlichen Fördertöpfen KULAP und HALM der Länder Bayern, Thüringen und Hessen. Die Zusammenarbeit lief sehr gut und zeigte Wirkung. „Die Zahlen der Revierpaare gingen 2018 bis 2020 um etwa 10 bis 15 Prozent nach oben“, weiß Knittel aus der Datenerhebung der Projektjahre. Und die Tendenz setzt sich seitdem fort. Die Kartierung ist ein weiterer wesentlicher Baustein des Hilfsprojektes. Insgesamt waren 200 Ehrenamtliche aktiv, um die Zahlen der Brutpaare und Rotmilane im Gelände zu erfassen. „Der harte Kern ist geblieben“, so Knittel, und führt die Arbeit in Bayern und Hessen fort. Er selbst koordiniert die Bestandserfassung auf hessischer Seite mit rund 30 Ehrenamtlichen. Am Anfang der Saison schult er diese und verteilt die Quadranten à 30 Quadratkilometer pro Kartierer oder Kartiererin. Knittel betont: „Man kann das Engagement der Ehrenamtlichen nicht hoch genug loben, sie haben das Projekt entscheidend mitgetragen und sind nach wie vor die Kümmerer vor Ort.“ Sie ermöglichen schnelles Handeln der Behörden etwa, wenn sie einen Holzeinschlag in Horstnähe bemerken. Denn der Brutplatz ist ein weiterer sensibler Bereich im Leben des Vogels. Lärm und Störungen durch Waldarbeiten führen oft zur Aufgabe des Nestes. Im Hessischen Staatswald wird deswegen ein aktueller Erlaß zum Schutz besetzter Milanhorste umgesetzt, ist von Guther v. Lorentz, Funktionsbeamter Naturschutz beim Forstamt Hofbieber, zu erfahren. Dieser ordnet an, daß in einem 50-Meter-Radius rund um den Brutbaum keine forstbetrieblichen Maßnahmen mehr durchgeführt werden dürfen. Doch auf die Küken lauern noch andere Gefahren: Nesträuber wie der problematische Neubürger Waschbär. „Der macht vor nichts Halt“, hat Knittel erfahren. Deswegen wurden als Gegenmaßnahme Horstschutzmanschetten in das Schutzprogramm aufgenommen. Deren Anbringung und Wartung wird von dem Ranger weiterverfolgt. „Wir bringen als Kletterbremse eine Plexiglasfolie am Baumstamm an.“ Im Winter kontrolliert er die Ringe und paßt sie dem Umfang des gewachsenen Stammes an. Einiges aus dem Programm wird also fortgesetzt, auf landwirtschaftlicher Ebene allerdings nicht mehr.
Elmar Herget, Sachgebietsleiter Naturschutz bei der Hessischen Verwaltung des Biosphärenreservats, macht klar, daß es aber auch hier irgendwie weitergeht. Es gebe andere Maßnahmen, die dem Rotmilan zugute kommen, etwa im Rahmen der LIFE-Projekts „Rhöner Bergwiesen“ oder das Rebhuhn-Projekt. Das gilt auch für den Landkreis Rhön-Grabfeld. Dr. Tobias Birkwald von der Bayerischen Verwaltung des Biosphärenreservats hält die Horstschutzmaßnahmen für die wichtigsten des Artenschutzprogramms. Sie werden auch im Landkreis Rhön weitergeführt. „Außerdem gibt es verschiedene Maßnahmen aus KULAP und Vertragsnaturschutz, die den Rotmilanen der Rhön zugute kommen, wie Schonstreifen und Messerbalkenmahd.“ Die Akteure tun, was sie können, damit die Rhön sich weiterhin mit ihrem Wappenvogel schmücken kann.