Ein Wortzauberer geht online
Werner Gossel ist Porzellan-Unternehmer, Künstler – und YouTuber. Seine Videos sind Gesamtkunstwerke aus wunderbar erzählten Geschichten und Bildern, die der 86jährige liebevoll arrangiert.
Text: Sabine Raithel | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Herr H. ist Journalist. Aufgerieben in der Hektik des Alltags, immer unter Zeitdruck, immer mehr im Gestern und Morgen, als im jetzigen Augenblick. Doch in seinen Träumen, da erfährt Herr H. eine andere Wahrnehmung. Da ist er ganz und gar im Jetzt. Absolut gegenwärtig erlebt er mit allen Sinnen die Welt so, wie sie auch Kinder, Liebende und Künstler erleben: zeitlos. Herr H. entwickelt einen „achten Sinn“, den Traumsinn – eine Art „Tastsinn für die Innenseite des Lebens“. Herr H. erkennt, wie „die Zeit zeitlos bleibt“. Er nimmt wahr, wie das Ticken der Uhr dem eigenen Herzschlag weicht. Der Weg dahin: Liebe und Achtsamkeit.
Die Geschichte von Herrn H. stammt aus der Feder der österreichischen Lyrikerin Ingeborg Gossel-Pacher (1937 – 2010). Ihr Ehemann, Werner Gossel (86), hat sie in einem seiner neuesten YouTube-Video rezitiert und jedes der Kapitel mit eigenen Zeichnungen illustriert. Seit genau einem Jahr ist Werner Gossel auf dem Online-Kanal aktiv. Jede Woche, pünktlich am Freitag, um 18:30 Uhr, schickt er ein neues Video online. 56 hat er schon produziert.
Ortstermin in Küps
Werner Gossel sieht sich im Musterzimmer seines Unternehmens um. Seit 1990 ist der Diplom-Kaufmann Inhaber von Lindner-Porzellan. Seit 1932 entstehen hier in Manufakturarbeit edle Service, Vasen, Figuren – aber auch Praktisches für Küche, Büro und Bad. Aufwendige Formen mit historischen Dekoren ebenso wie moderne Klassik im klaren Bauhaus-Stil. Hier, im Musterzimmer, sieht man einen Ausschnitt aus dem reichen Programm: filigranes Zwiebelmuster sowie rote, blaue oder grüne Ranken auf einer Biedermeier-Form; handgemalte Rosen oder pures Gold auf barocken Servicen und Geschenkartikeln – aber auch Puristisches in Weiß. Stilprägend für Lindner-Porzellan ist der hohe Anteil an echter Handarbeit, die hier noch meisterlich beherrscht wird: handgemalte Dekore und Goldverzierungen oder präzise bearbeitetes Durchbruchporzellan. Nur noch wenige Hersteller auf der Welt beherrschen die Kunst der manufakturhaften Porzellanherstellung. In dieser Nische hat Werner Gossel seine Firma mit sicherer Hand durch Höhen und Tiefen navigiert. Mittlerweile führt sein Sohn Walter das Unternehmen. Doch Werner Gossel läßt es sich nicht nehmen, nach wie vor ab fünf Uhr morgens vor Ort zu sein und dort anzupacken, wo es nötig ist.
Doch dann gibt es auch Zeiten, in denen er das tut, was ihm gerade ein Herzensanliegen ist. Dazu schlüpft er jeweils in eine andere – vorzugsweise aus Brokat genähte – Weste, die ihm Tochter Ulrike zurechtlegt, und die ihm ein wenig den Nimbus eines Zauberers verleiht. Dann nimmt er an einem kleinen Tisch im Musterzimmer Platz. Vor ihm ein großes Ringlicht, ein Monitor mit Teleprompter und hinter ihm ein Greenscreen. Schließlich beginnt er zu erzählen. Ruhig und mit sanfter Stimme formuliert er Sätze, bei denen jedes Wort sorgsam gewählt und ausgewogen wirkt. Dabei scheinen seine wachen blauen Augen den Zuschauer zu suchen. Unwillkürlich erinnert die Art wie Werner Gossel seine virtuellen Gäste anspricht, wie er sie einfängt und mit in die Geschichte zieht, ein wenig an den großen Schauspieler Bernhard Minetti.
Das Glück ist eigentlich immer zum Greifen nahe
Mal sind es philosophisch tiefgründige Essays und Kurzgeschichten, die er vorstellt, wie die von Herrn H., mal ist es ein Gedicht aus der Feder seiner Frau Ingeborg, dann sind es lyrisch-humorvolle Ausflüge in die Welt der Redensarten, in denen er die Herkunft und Bedeutung von „Auf dem Prä-sentierteller sitzen“ oder „Da ist der Wurm drin“ erklärt und dann wieder nimmt er seine Zuhörer mit in die wunderbare Welt der Porzellanfertigung.
„Hallo Ihr Lieben“ so begrüßt Werner Gossel seine „Community“ freundlich. Er trägt eine goldfarbene Weste und dann erzählt er, daß es „anno dazumal“ absolut verpönt war, wenn Damen in Gesellschaft Alkohol tranken. Deshalb griff die findige Weiblichkeit zu einem Trick – und zu einer Miniatur-Teekanne und gleichermaßen zierlichen Täßchen, mit denen sie die Likörchen tarnten, die sie nun unbescholten genießen konnten. So etablierte sich in Damenkreisen der fröhliche Trinkspruch: „Hoch die Tassen“.
Der nächste Klick zeigt das berührende Video, in dem Werner Gossel, begleitet von seinen Kindern Walter und Ulrike, ein Gedicht von seiner Frau Ingeborg vorträgt, in dem es um das geht, was im Leben wichtig ist: „Sie hat genau das gesagt, was wir auch möchten, nämlich gute Energie rüberzubringen, uns am Kleinen zu freuen und nicht das Glück irgendwo außerhalb zu suchen.“ Und dann zitiert Werner Gossel: „Eigentlich ist Glück da. Nahe beim Nichts. Nahe beim Alles. Eigentlich immer, zum Greifen nahe.“
Das Zeug zur Internet-Ikone
In seinem großen Musterzimmer, zwischen den unzähligen Porzellanpreziosen, gibt es eine kleine, etwas historisch anmutende Besprechungsecke. Hier erzählt Werner Gossel, wie er dazu kam, in seinem Alter einen eigenen YouTube-Kanal zu eröffnen: „Meine Kinder sind natürlich seit langem auf Facebook und Instagram aktiv.
Und irgendwie dachte ich, ich könnte mich auf YouTube kreativ austoben“, sagt er lachend. „Eine Mitarbeiterin, die mich technisch unterstützt, sagte, es gäbe auch ‚Shorts‘, aber wissen sie. Ich mag die längeren Videos viel lieber. Da kann ich meine Ideen viel besser realisieren. Ich möchte etwas Gutes in die Welt bringen.“
Und das tut er. Der Unternehmer, der in jungen Jahren, vor seinem Studium der Betriebswirtschaft in Nürnberg, an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert hat, stellt hier sein künstlerisches Talent wiederum unter Beweis. Seine Geschichten verwebt er gekonnt mit Zeichnungen in Mischtechnik, die eine exzellente Schule verraten. Einige Videos werden zusätzlich mit Musikeinspielungen von Tochter Ulrike, einer Cellistin, vertont.
Wenn aus Kaolin, Quarz und Feldspat Porzellan entsteht, dann ist das ein geradezu magischer Prozeß. Und wenn aus Worten Botschaften entstehen, die das Herz berühren und Menschen zum Nachdenken bringen, dann mag da vielleicht auch Magie im Spiel sein. Werner Gossel beherrscht beides. Viele hundert Klicks zählen seine Videos und die begeisterten Kommentare seiner Online-Zuschauer belegen, daß er das Zeug zur Internet-Ikone hat.