Ausgabe Mai / Juni 2024 | Stadt-Land-Fluß

Das wahre Silicon Valley

Geschichte, Kunst, High-Tech, Landschaftspflege und Lebensart – alles in einem Ort. Charme und Idylle sind ohnehin gratis. Pretzfeld im Landkreis Forchheim.

Text + Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
St. Kilian, sozusagen umblüht.
St. Kilian, sozusagen umblüht.

Mitte April hätte man auch mit dem Zug zur Kirschblüte nach Pretzfeld fahren können – der Bahnhof ist am Ortsrand – vom Zug aus die wunderschönen, blühenden Bäume bewundern; hätte sich, weil im Vorbeifahren und nicht so ganz nah dran, nicht blamieren und eindeutig Kirsch-, Zwetschgen- von Apfelbäumen unterscheiden müssen; und den Nachbarn – die kamen sogar von weit her – einfach zuwinken können, ohne mit ihnen reden zu müssen. Womöglich hätte man sich sogar einen Strafzettel gespart. Dem Vernehmen nach war die Polizei aus dem nahen Ebermannstadt mit einem Sonderkommando unterwegs und verteilte um die hundert Gutscheine. In der Tat herrschten an einigen Blüh-Tagen im oberfränkischen Pretzfeld (Lkr. Forchheim) venezianische Verhältnisse. Die Straßen im Ort und um den Ort herum heillos verstopft, alles wild zugeparkt, die zahlenmäßig überschaubaren (wovon sollten die auch im Rest des Jahres leben?) gastronomischen Betriebe völlig überfordert. Und ein Bürgermeister in seiner Amtsstube, der am liebsten geflohen wäre. Ging natürlich nicht. Die Bürde der schönen Orte, worunter Spanien oder Italien seit langem leidet, gilt es inzwischen eben selbst in Franken zu ertragen, wenn auch noch nicht jeden Tag.

Ein Bild wie aus dem Märchenbuch – in Pretzfeld ist die Geschichte nachvollziehbar.
Ein Bild wie aus dem Märchenbuch – in Pretzfeld ist die Geschichte nachvollziehbar.

Dafür hat Pretzfeld nach oben Luft. Jenseits der Kirschblüte (für die keine Werbung mehr nötig ist) hat der malerische Ort (samt seinen, seit der Gemeindegebietsreform 1978, zwölf Ortsteilen) mit seinen rund 2 500 Einwohnern noch anderes zu bieten, das ganzjährig einen Ausflug (da dürfte dann in Keller und Gasthäusern Platz sein) lohnt, und sei es „nur“ zum Wandern.

Natürlich aber ist der Kirschenweg ein Geschenk der Götter, das nur schwer zu überbieten geht. Rund 200 000 Süßkirschbäume auf 2 500 Hektar Kirschgärten, eines der größten geschlossenen Süßkirschenanbaugebiete Westeuropas, durchzogen von einem etwa zehn Kilometer langen Kirschenweg, den man wohl eher blütentrunken entlangtaumeln als in zwei, drei Stunden abwandern muß.

Zumal die fünfzehn Stationstafeln sicher nur von den ganz Schlauen ignoriert werden; sie vermitteln unter so verheißungsvollen Namen wie „Lauschecke“, „Geologie“ (kleiner Scherz), „Kalktuffbach“, „Kellerwald“, „Herrenwald“, „Naturwald“ usw. Wissenswertes zum Kirschenanbau, über den „Energieträger“ Holz, überhaupt das Trubachtal, zu Landschaft, Teichen und Geschichte. Es gibt wie-gemalte Ausblicke, eine Mariengrotte, das Fröhlich-Denkmal, und … und zwei „Gute Orte“, also Jüdische Friedhöfe. Einen auf dem Judenberg im Wald bei Pretzfeld, einen beim Ortsteil Hagenbach, der sogar die Nazis nahezu unbeschadet überstanden hat.

Der jüdische Friedhof in Hagenbach ist zur Kirschblüte besonders schön.
Der jüdische Friedhof in Hagenbach ist zur Kirschblüte besonders schön. Foto: Lothar Mayer

St. Kilian
St. Kilian

Die Bewässerungsanlage zwischen Pretzfeld und dem Ortsteil Hagenbach gehört zum Immateriellen Kulturerbe der Fränkischen Schweiz.
Die Bewässerungsanlage zwischen Pretzfeld und dem Ortsteil Hagenbach gehört zum Immateriellen Kulturerbe der Fränkischen Schweiz. Foto: Lothar Mayer

Es sind Bilder wie diese, die einen Spaziergang durch den Ort besonders reizvoll machen.
Es sind Bilder wie diese, die einen Spaziergang durch den Ort besonders reizvoll machen. Foto: Lothar Mayer

Brennanlagen (hier die der Brennerei Haas) haben ohnehin den Charme des Außerirdischen.
Brennanlagen (hier die der Brennerei Haas) haben ohnehin den Charme
des Außerirdischen.

Der Schloßpark Pretzfeld ist zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert.
Der Schloßpark Pretzfeld ist zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert.

Gute Orte

Knapp! 1941 war der Plan aufgekommen, die „Friedhofsfläche in eine Maulbeerbaumplantage für die Seidenraupenzucht umzuwandeln“, weil Fallschirmseide benötigt wurde. Der Plan wurde jedoch nicht verwirklicht. Allerdings hatte bereits 1934 die einstmals über 30 Familien umfassende jüdische Kultusgemeinde in Hagenbach zu existieren aufgehört – damals fand auch die letzte Beerdigung auf dem Friedhof statt. Das Hagenbacher Bezirksrabbinat (seit 1825) war 1894 aufgelöst worden. Zur Reichspogromnacht am 10.11.1938 wird das bis ins Jahr 1298 zurückreichende jüdische Leben Pretzfelds (die ersten Juden waren Flüchtlinge der Judenverfolgung aus Nürnberg) Opfer der nationalsozialistischen Geschehnisse – angesichts der gegenwärtigen politischen Lage, sollte man wohl von deutscher Mordlust und Zerstörungswahn sprechen. Auf einer kleinen Trubachinsel wurde damals das Inventar aus den Kultusgebäuden verbrannt und zwei betagte Ehepaare, deren Häuser vom Mob verwüstet worden waren, wurden deportiert (!). Gleichwohl finden sich noch heute neben den Friedhöfen in Pretzfeld eindrucksvolle Zeugnisse jüdischen Lebens. Seien es die jüdischen Traufhäuser am Ortseingang des besonders malerischen Hagenbach und im weitesten Sinne, noch prominenter, das im 16. Jh. zerstörte und wiederaufgebaute Pretzfelder Schloß – mit dem kleinen, aber feinen Schloßpark, der auch, wenn das Schloß nicht geöffnet sein sollte, besucht werden kann; eine weitere Attraktion in Pretzfeld.

Schloß Pretzfeld
Schloß Pretzfeld

Das Treppenhaus im Schloß
Das Treppenhaus im Schloß

Selbstbildnis von Curt Herrmann
Selbstbildnis von Curt Herrmann

Das Schloß hatte 1852 der Nürnberger Bankier Josef Kohn – übrigens der erste Jude, dem nach der Judenvertreibung im Mittelalter in Nürnberg wieder das Bürgerrecht zuerkannt wurde – als Sommersitz für seine Familie erworben. Es blieb und ist noch heute im Familienbesitz und eignete sich be­stens als, ja, als kunstgeschichtliche Kult- oder Pilgerstätte. Natürlich (!) haben auch hier die Nazis gewütet, haben viele Werke des Malers Curt Herrmann zerstört (geb. 1854 in Merseburg). Allerdings haben zumindest die unmittelbaren Nachfahren des Bankiers Kohn, seine Tochter Lina Kohn-Herz (gest. 1934), der man auch unter den Nazis nicht die Ehrenbürgerschaft Pretzfelds aberkannte, deren Tochter Sophie, die ihren Mallehrer Curt Herrmann geheiratet hatte, und auch deren Kinder, die rechtzeitig nach England geflohen waren, die Zerstörungen nicht mehr mitbekommen. Curt Herrmann freilich hätte auch nach seinem Tod (1929) in der Kunstgeschichte noch größere Beachtung verdient, ist aber heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei malte er auf ebenso hohem Niveau wie etwa Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner, lehrte an der Berliner Akademie und der Universität Marburg, war zu Lebzeiten hochgeschätzt. In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich auf Schloß Pretzfeld zurückgezogen; litt an Depressionen und hörte 1923 das Malen auf – zwei Jahre nach seinem Tod nahm sich seine Ehefrau Sophie das Leben.

Im Schloß kann man immerhin noch einige seiner Arbeiten, neben Lebenszeugnissen des Paares und selbst eine Arbeit des Freundes Henry van de Velde, der oft zu Besuch kam, bewundern.

Ausgesprochen einfallsreich bahnt sich der Trubach seinen Weg durch den Ort.
Ausgesprochen einfallsreich bahnt sich der Trubach seinen Weg durch den Ort.

„Trinkbare Landschaften“

Daß Kunst und Künstler oft auch posthum nicht die Beachtung erfahren, die ihnen eigentlich zustünde, wissen wir jetzt, gleich gar, wenn es Geld kostet. Ungewöhnlicher ist es hingegen, wenn im nämlichen Schloß nicht nur die Kunst vergessen wurde, sondern der Bürgermeister immer wieder und mit Aplomb darauf verweisen muß, daß in diesem Schloß auch etwas erforscht, erarbeitet, geschaffen wurde, ohne das unsere moderne Welt nicht einmal mehr vorstellbar wäre. Sei es Internet, TV, Mobilfunk, Energieversorgung, Medizintechnik, selbst Photovoltaikanlagen, ohne die „Chips“ der Mikroelektronik gäbe es das meiste heute nicht. Das für die Chips und die Solarzellen erforderliche Material, hochreine Kristalle aus Silizium, wurde erstmals in den 1950er Jahren im fränkischen Pretzfeld hergestellt. Die Physiker Walter Schottky und Eberhard Spenke hatten schon seit den 1930er Jahren in den Siemens-Laboratorien in Berlin die Eigenschaften von Halbleitermaterialien erforscht. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Halbleiterlabor ins fränkische Pretzfeld verlegt. Hier gelang es ihnen, reinstes Silizium herzustellen. Verrückterweise dank eines Verfahrens, mit dem man sich in der Gegend um Pretzfeld dank des Obstbrennens be­stens auskennt: Reinigung durch Destillation. Dieses Reinstsilizium wiederum besteht aus vielen kleinen Kristallen. Für die Halbleitertechnologie wurden aber perfekte Einkristalle benötigt. Selbst dieses und einige weitere Probleme wurden in Pretzfeld gelöst. Was den kleinen oberfränkischen Ort ganz keck zu dem Slogan „Das wahre Silicon Valley“ greifen ließ. Bis in die 1980er Jahre war die hier entwickelte Technologie das dominierende Herstellungsverfahren. Erst aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen wurde der Halbleiter-Standort Pretzfeld, inzwischen neben dem Schloß, 2002 geschlossen und u.a. nach Erlangen verlegt.

Steffen Lipfert, Erster Bürgermeister
Steffen Lipfert, Erster Bürgermeister

Reizvoll ist diesbezüglich wohl vor allem der Gedanke, daß sich der Hype, oder überhaupt das Ballyhoo um (nicht zuletzt) die KI, und damit selbst das Irrlichtern eines Elon Musk, wenn auch nur im übertragenen Sinne, in letzter Konsequenz fränkischer Destillate, vulgo Obstbrände, verdankt. Die Pretzfelder Edelbrennerei von Johannes Haas jedenfalls, die größte und wichtigste am Ort, nutzt diesen Aspekt für ihr Marketing bislang nicht. Haas setzt, wie sein Vater Georg, auf Destillationskunst und Landschaftspflege. Er nutzt die Obstbäume nicht einfach, er legt Streuobstwiesen aus alten Sorten an und rettet die Vielfalt des Obstes und verarbeitet sogar die Hölzer für das Mobiliar in seiner Probierstube. Ein Obstbrand ist vergeistigter Baumbestand – ein Satz, der es beinahe mit dem „Cogito ergo sum / Ich denke, also bin ich“ eines René Descartes aufnehmen kann, und den man sogar vor allem schmeckt. Insofern braucht der fränkische Brenner mit Wässer, Geiste, Brände, Liköre, Whisky, Gin, Rum und selbst Essig und Aceto nicht gegen die nach wie vor oft leeren Versprechen aus Häusern wie Google, Microsoft, Apple usw. anzutreten. Ginge es mit rechten Dingen zu, hätten die keine Chance.

Seit 2020 kümmert(!) sich Steffen Lipfert als Bürgermeister um Pretzfeld. Und soweit es sich von außen beurteilen läßt, macht er nichts verkehrt.

Weitere Zeitschriften vom Verlag Kendl & Weissbach Publikationen

Franken-Magazin

Das Franken-Magazin ist eine unabhängige Zeitschrift – ein Regionalmagazin, das alle 2 Monate erscheint und die mehrseitige Reportage zum Mittelpunkt seines Inhalts erklärt. Das Franken-Magazin zeigt Land und Leute liebevoll von ihrer interessantesten Seite.

Franken-Magazin - Ausgabe 03-04 2023

Abonnement / Shop

Das Franken-Magazin finden Sie im Zeitschriftenhandel. Sie können die Artikel hier online lesen oder Sie schließen ein Abo ab und erhalten es immer frisch gedruckt direkt in den Briefkasten. Einzelhefte können Sie ebenfalls direkt im Shop nachbestellen.

Nach oben