Der Rothenburger Weg
Beim Begriff „Modern“ denken die meisten nicht zuerst an eine mittelalterliche Stadt. Doch genau darum drehte sich die Tagung „Modernität der Reichsstädte“ in Rothenburg ob der Tauber anläßlich des 750jährigen Bestehens als freie Reichsstadt.
Text: Juliane Pröll
Aber wie modern kann und darf eine Stadt mit diesem historischen Erbe sein und welchen Weg haben andere Städte eingeschlagen? Diese und andere Fragen erörterten die Vortragenden bei der von Stadtarchivar Dr. Florian Huggenberger organisierten Konferenz im Rothenburger Wildbad.
Vor allem die Bildproduktion sei für die Entwicklung von Rothenburg und Dinkelsbühl wichtig gewesen, sagt Dr. Jörg Christöphler, Tourismusdirektor der Stadt Rothenburg. „Die frühen Vervielfältigungsmedien begünstigten, daß ohne größere Kosten Bilder der Städte millionenfach verbreitet wurden.“ Dabei half auch das Aufkommen der Fotopostkarte um 1900. Rothenburg paßte zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs gut ins Bild des überhöhten Mittelalters, da es „völlig von der Zeit vergessen war“. Anfang des 20. Jahrhunderts war an vielen Häusern in Rothenburg das Fachwerk noch verputzt. Um das mittelalterliche Erscheinungsbild mehr hervorzuheben, wurde es wieder freigelegt. Tourismus und Nationalismus prägten so das Stadtbild.
Dortmund dagegen riß das mittelalterliche Rathaus 1866 ab, da es baufällig geworden war und auch die Räume nicht mehr den Anforderungen der neuen Zeit entsprachen. Genau 33 Jahre später lud die Stadt Kaiser Wilhelm II. zur Eröffnung des Lippe-Ems-Kanals ein. Aus Spenden wurde das Rathaus für den hohen Besuch zuvor in mittelalterlicher Gestalt neu aufgebaut.
Um Dortmund dreht sich auch ein Vortrag der Tagung von Dr. Hartwig Kersken vom Stadtarchiv Dortmund mit dem Titel „Die vergessene Reichsstadt?“. 1803 wurde die ehemalige Reichsstadt bereits abfällig als „großes Dorf mit Mauern“ beschrieben. In Dortmund wie auch in Esslingen arrangierten sich die Bürger schnell mit dem Verlust der reichsstädtischen Eigenständigkeit und nutzten die neuen, wirtschaftlichen Chancen. Mit der Zeit wurde das architektonische, mittelalterliche Erbe von der modernen Industrialisierung aufgefressen. Heute erinnern nur noch wenige Bauwerke wie die Innenstadtkirchen an die einst große Reichsstadt. In Rothenburg dagegen fand im 19. Jahrhundert zu wenig Industrialisierung statt. Es gab dort nicht den „Industriellen Take-Off ab 1850“, wie Huggenberger es nennt. So blieb Rothenburg vorerst so märchenhaft verschlafen wie es war.
Altstadt auch mal neu erfunden
Die Entwicklung der bereits erwähnten Reichsstadt Esslingen beleuchtete der Vortrag von Dr. Joachim Halbekann vom Stadtarchiv Esslingen. Durch den Statusverlust büßte die Stadt in der Neuzeit an Bedeutung ein. Die Industrialisierung sowie das Bevölkerungswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten den Ort zusätzlich. Esslingen verfügt im Gegensatz zu Dortmund jedoch über mehr als 800 historische Denkmäler, umgeben von einer malerischen Landschaft.
Zur Modernisierung gehörte aber auch eine „Verhäßlichung der Landschaft durch Schienenwege“. Städte wie Dortmund, Esslingen, aber auch Augsburg und Nürnberg bekamen einen wirtschaftlichen Schub. Dazu trug die Eisenbahn bei. Gewerblich hatten diese Städte mehr Möglichkeiten, da sie günstig an Verkehrswegen lagen. Auch die Nähe zur Großstadt war ein wichtiger Faktor. Mit rund 11 500 Einwohnern ist Rothenburg auch im Jahr 2024 nicht so weit entfernt von der Einwohnerzahl als Reichsstadt. Damals waren es um die 6 000 Bewohner. Dortmund dagegen wuchs von circa 7 000 Einwohnern im Mittelalter bis 2024 auf rund 600 000 Einwohner an. Am Beispiel Dinkelsbühl zeigte Matthias Mattausch vom Stadtarchiv Dinkelsbühl auf, daß in der Stadt erst die Eisenbahnanschlüsse der 1870er Jahre zu bescheidenen Formen der Industrialisierung führten. Weitaus bedeutsamer wurde der sich mit der Eisenbahn intensivierende Tourismus – genau wie bei Rothenburg.
Wie modern so manches verspielte Gebäude in der weltberühmten Altstadt ob der Tauber ist, sieht man erst auf den zweiten Blick. Dafür sorgte der sogenannte „Rothenburger Weg“: Nach 1945 waren vierzig Prozent des Altstadtbereiches im Nordosten zerstört. „Der Wiederaufbau ist nicht historistisch erfolgt“, sagt Christöphler. „Es wurde mit heimischen Baumaterialen in der alten Grundrißstruktur des Vorgängergebäudes gebaut. Aber man hat zum Beispiel die Firsthöhen in der Galgengasse vereinheitlicht.“ Die Bildwahrnehmung der idealen Mittelalterstadt hat so massiv den Wiederaufbau gelenkt. „In der Rosengasse gab es ein Haus, das war sehr schlicht. Das hatte weder Fachwerk noch Erker. Im Wiederaufbau wurde diesem Haus Fachwerk und ein seitlicher Erker verpaßt“, so der Tourismusdirektor. Dieser Erker war später störend für die Busse, da in der Nähe auch ein Hotel liegt. Ende der 1980er Jahre wurde deshalb der Erker abgenommen und in die Hauswand als Auswölbung integriert. „Im Grunde war das eine Neuerfindung im Sinne eines als typisch rothenburgerisch wahrgenommenen Stadtbilds“, erklärt der Leiter Tourismus, Kunst und Kultur. So fließen die Grenzen von neu, modern und historisch ineinander und sind oft nicht klar voneinander abzugrenzen.