„Jede einzelne Pflegekraft, die geht, tut uns unendlich weh“
Pflegepersonalmangel in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ist nicht neu, Corona aber hat als Brandbeschleuniger gewirkt. Das merkt man auch beim Kommunalunternehmen des Landkreises Würzburg. Neben der Main-Klinik Ochsenfurt befinden sich unter dessen Dach acht Pflegeheime und sieben Wohnanlagen, deren Pflegepersonal ist chronisch überlastet. Ein Gespräch mit den zwei Vorständen Eva von Vietinghoff-Scheel und Professor Dr. Alexander Schraml sowie Christian Schell, Geschäftsführer der Main-Klinik Ochsenfurt.
Text: Michaela Schneider | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Viele Notaufnahmen bayerischer Krankenhäuser sind überlastet, reguläre Operationen müssen erneut verschoben werden. Herr Schell, wie dramatisch ist die Situation an der Main-Klinik Ochsenfurt?
Christian Schell: Ich habe uns eben bei der Rettungsleitstelle abgemeldet. Wir haben zwar noch ein, zwei freie Betten. Aber wir bekommen morgen in der Früh an die zehn angemeldeten Patienten, die operiert werden. Allerdings: Wir haben seit Monaten keinen intensivpflichtigen Patienten wegen Covid mehr gehabt, das ist nicht das Problem. Wir haben meistens drei bis fünf Patienten mit Covid, aber selten wegen Covid. Es waren jedoch phasenweise bis zu 25 Prozent des Personals in Isolation. Aktuell haben wir Glück und die Zahl hält sich in Grenzen.
Was macht Ihnen dann zu schaffen?
Christian Schell: Die generelle Situation des Personals. Fast zweieinhalb Jahre Pandemie waren ohne Ruhephasen extrem belastend. Und man darf nicht vergessen, daß beim Pflegepersonal die Belastung zuhause noch dazu kam. In Branchen, in denen Homeoffice möglich ist, ließ sich Homeschooling leichter schultern. Unsere Leute – sowohl in der Klinik als auch in den Pflegeheimen – müssen vor Ort und im Schichtbetrieb arbeiten.
Wir beobachten hohe Krankheitsquoten, die nichts mit Covid zu tun haben. Gefühlt hat gerade auch die Zahl psychischer Erkrankungen zugenommen. Die Leute sind überlastet.
Sind Mitarbeiter gegangen?
Christian Schell: Die Verwurzelung mit unseren Häusern ist zum Glück relativ hoch. In ein anderes Haus gewechselt ist niemand, warum auch, dort wäre die Situation nicht besser. Ich habe aber den Eindruck, daß einige Leute vielleicht eher in Rente gegangen sind oder Entscheidungen treffen, die sie vielleicht schon länger mit sich herumtragen. Wir haben zum Beispiel Mitarbeiter, die jetzt ein Studium Pflegepädagogik beginnen oder sich intern beworben haben auf die Praxisanleitung für die Ausbildung, um aus dem Schichtdienst rauszukommen.
Wie versuchen Sie, die Lücken zu schließen?
Christian Schell: Wir können sie nicht schließen, es gibt keinen Arbeitsmarkt mehr für Pflegekräfte. Unsere Strategie ist eine gute Ausbildung, Stichwort neue Pflegeschule. Wir schauen auch auf den ausländischen Arbeitsmarkt. Und wir geben uns mit Benefits, familienfreundlichen Arbeitszeiten und mehr alle Mühe, neuen Mitarbeitern einen Arbeitsplatz schmackhaft zu machen. Gleichzeitig muss man aber auch bedenken: Jede Pflegekraft, die bei uns anfängt, fehlt andernorts. Wir verzichten daher auf aggressive Abwerbeversuche wie Antrittsprämien.
Schon im Dezember hatten sich die Klinik wie auch die Pflegeheime der Kommunalunternehmen des Landkreises Würzburg mit einem Brandbrief an die Politik gewandt. Mitarbeiter seien frustriert und erschöpft. Frau von Vietinghoff-Scheel, wie geht es dem Personal in dem Pflegeheimen?
Eva von Vietinghoff-Scheel: Zuletzt habe ich gehört, daß im Landkreis Würzburg insgesamt 300 stationäre Pflegeplätze nicht besetzt werden können mangels Personal. Probleme haben also alle Träger. Bei uns geht es noch einigermaßen, wir müssen zumindest keine Stationen schließen mangels Pflegekräften. Aber wir merken täglich, wie erschöpft die Mitarbeiter sind. Es fehlt die Sommerpause. Wir hatten jetzt wieder positive Bewohner in etlichen Häusern und positiv getestete Pflegekräfte. Uns ärgert, daß die Belastung der Kliniken und Pflegeheime, aber auch die Belastung der Bewohner durch die Isolationen nicht gesehen wird. Es wird zwar viel darüber geredet und die Politik erzählt, wir seien gut gerüstet für den Herbst. Aber nein, das sind wir nicht!
Wie macht sich die Corona-Sommerwelle in den Pflegeheimen konkret bemerkbar?
Eva von Vietinghoff-Scheel: Wir sehen derzeit, daß Bewohner in der Regel nur leichte Symptome haben. Die meisten haben nur ein bißchen Fieber und ein bißchen Schnupfen. Ich will Corona nicht verharmlosen, es gibt nach wie vor Menschen mit Vorerkrankung, die an Corona versterben. Wir müssen die vulnerablen Gruppen schützen, man fragt sich aber derzeit wovor… Durch zehn Tage Isolation verlieren wir etliche Pflegeheimbewohner. Sie bauen kognitiv und körperlich so stark ab, daß wir dies nicht mehr kompensiert bekommen. Hier wird zu wenig abgewogen. Wir müssen alte Menschen auch vor Vereinsamung schützen.
Jetzt stehen die neuen Coronaregeln für den Herbst fest. Da rollen weitere Aufgaben auf Sie zu…
Eva von Vietinghoff-Scheel: Pflegeheim-Besucher sollen einen negativen Test haben oder in den letzten drei Monaten genesen oder geimpft sein. Ja wer soll denn das kontrollieren! Wir bekommen keinen Besuchsdienst finanziert. Jetzt auch noch eine der sowieso schon raren Pflegekräfte abzuziehen und an den Eingang zu stellen, um Test- und Impfzertifikate zu kontrollieren, ist ein absoluter Wahnsinn! Ich weiß nicht, welche Experten hier mitgeredet haben – wir wurden nicht gefragt. Das ärgert und frustriert. Genau wegen solcher Geschichten verlieren wir Pflegekräfte. Sie gehen vorzeitig in Ruhestand, sie reduzieren die Arbeitszeit. Sie schaffen es einfach nicht mehr! Und uns fehlen die Argumente, um zu sagen: Haltet bitte durch! Jede einzelne Pflegekraft, die geht, tut uns unendlich weh. Bislang waren es wenige. Aber unsere Sorge, daß mehr gehen werden, ist riesig.
Alexander Schraml: Wir merken auch, daß sich weniger junge Leute dafür entscheiden, diesen Beruf zu lernen. Das war vor einem Jahr noch anders. Heuer dagegen sind viel weniger Bewerbungen auf die Ausbildungsstellen eingegangen. Das ist für die Zukunft eine Katastrophe.
Wie könnte die Politik gegensteuern?
Eva von Vietinghoff-Scheel: Wir bräuchten in vielen Bereichen mehr Unterstützung. Ich kämpfe zum Beispiel gerade dafür, daß eine syrische Frau nicht abgeschoben wird, die wir gerne als Pflegehilfskraft einstellen würden. Warum muß ich dafür kämpfen? Wir müssen uns dringend die Frage stellen, wo wir Personal herbekommen. Wir brauchen internationale Mitarbeitende! Und wir müssen uns die Frage stellen: Wie viele produktiv arbeitende Menschen haben wir überhaupt in Deutschland? Viele, viele Pflegekräfte arbeiten beim Medizinischen Dienst, der Heimaufsicht, dem Landesamt für Pflege, am Ministerium… Hier ist schon die Frage: Können und wollen wir uns dies auf Dauer leisten? Aus meiner Sicht muß dringend Bürokratie abgebaut werden, damit mehr Leute produktiv arbeiten können. Laut Statistik sind in Deutschland 55 Prozent der Menschen nicht produktiv tätig. Förderanträge, Überwachung, Konferenzen, Strategiepapiere entwickeln – das alles ist ein Wahnsinn, wenn uns gleichzeitig die Menschen am Bett fehlen.
Wie schwierig ist es, Personal im Ausland anzuwerben?
Eva von Vietinghoff-Scheel: Viele Leute kommen zu uns aus dem Kosovo oder auch Tunesien. Andere Träger sind zum Beispiel in Mexiko aktiv. Das größte Problem ist, daß die Leute oft monatelang keinen Termin bei der Botschaft bekommen, um ein Arbeitsvisum zu beantragen. Dann geht es auf einmal ganz schnell, sie sind innerhalb von zwei Wochen da, das ist für uns eine Herausforderung mit Blick auf Planungssicherheit, aber zum Beispiel auch Wohnraum.
War die Pandemie nur Brandbeschleuniger und hat Probleme sichtbar gemacht, die schon vorher längst da waren?
Alexander Schraml: Ich habe vor 30 Jahren ein Gutachten geschrieben für den wissenschaftlichen Dienst zum Zuwanderungsrecht. Vermutlich liegt es irgendwo eingestaubt in Berlin. Die drohende Personalnot war damals schon ein Thema. Wahnsinnig viele Jahrgänge Ü60, Ü65 hören in den nächsten Jahren auf zu arbeiten. Sie lassen sich durch jüngere, geburtenschwächere Jahrgänge nicht ersetzen. Das war schon vor drei Jahrzehnten keine Prognose, sondern Gewissheit.
Eva von Vietinghoff-Scheel: Es ist immer noch Gewissheit und trotzdem wird nichts gemacht.
Christian Schell: Zudem haben wir ein Finanzierungssystem an den Kliniken, bei dem Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben werden sollen. 70 Prozent der Kosten in der Klinik sind Personalkosten. Hier wurde immer weiter nach unten geschraubt, bis wir irgendwann mit viel zu wenig Pflegekräften dagestanden waren. Es wurde nicht darauf geschaut, daß Personal nachhaltig ausgebildet und eingesetzt wird. Ich sehe die Pandemie hier tatsächlich nur als Brandbeschleuniger.
Herr Schraml, Sie werden nicht müde, die Ökonomisierung des Krankenhauswesens zu kritisieren – und ziehen den Vergleich zur Feuerwehr, die fürs Dasein bezahlt wird. Wie meinen Sie das?
Alexander Schraml: Im Krankenhaus stößt man jetzt an die Grenzen des bisherigen Systems. Man finanziert jede einzelne Leistung. Die Feuerwehr dagegen bekommt nicht Geld fürs Löschen, sondern weil sie da ist – und jeder freut sich, wenn sie nicht im Einsatz ist. Bei den Kliniken dagegen sind wir in der perversen Situation, daß sich deren Geschäftsführer über jeden Kranken oder möglichst noch Schwerstkranken freuen. Dabei sollten wir eigentlich froh sein, wenn möglichst viele Menschen gesund sind und nicht ins Krankenhaus müssen! Grundlegend gedacht wäre es viel sinnvoller, wenn ein Krankenhaus wie die Feuerwehr dafür finanziert würde, daß es da ist. Das ist in der Pandemie offensichtlich geworden. Stattdessen mußten nun Budgetsicherungssysteme eingebaut werden. Im Pflegebereich wurde ein Rettungsschirm eingerichtet bis 30. Juni, der die coronabedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben ersetzt hat. Im Krankenhaus greift die Budgetsicherung auf Basis 2019 bis zum Jahresende. Mit anderen Worten: In der Not hat man ein System etabliert, das vielleicht das generell bessere wäre und den Ökonomisierungsdruck nähme.
Wie große Sorgen bereitet Ihnen der drohende Energiekostenanstieg im Winter?
Christian Schell: Die zusätzlichen Kosten werden an der Klinik im hohen sechsstelligen Bereich liegen. Entweder muß der Träger oder der Staat den Verlust ausgleichen. Es geht bei uns um Patienten, wir können die Raumtemperatur nicht einfach auf 19 Grad zurückfahren. Unsere Wärme, unser Gas verbrauchen wir für die Dampferzeugung, um Instrumente zu sterilisieren, wir betreiben Kältemaschinen, die den OP runterkühlen. Wir können vielleicht hier und da etwas drehen, aber das sind Tropfen auf den heißen Stein.
Sie bauen an der Main-Klinik Ochsenfurt gerade eine neue Pflegeschule, der Neubau soll im Herbst 2023 stehen. 26 Schulplätze pro Ausbildungs-jahr sind geplant. Der erste Jahrgang wird in provisorischen Räumen schon diesen Herbst starten. Welche Impulse erhoffen Sie sich davon?
Christian Schell: Ich hoffe, daß wir dann in einer modernen Pflegeschule mit moderner Technik und wissenschaftlich fundiert künftig genug junge Menschen wohnortnah ausbilden können. In Folge könnten wir unsere eigenen Stellen besetzen – und dadurch wird sich automatisch auch die Attraktivität des Berufs an sich erhöhen.
Zum Personalmangel in Krankenhäusern,
Pflegeeinrichtungen und mobilen Pflegediensten
Ein Statement von MdL Volkmar Halbleib
Einige der Probleme für eine bessere Situation beim Pflegepersonal wurden von der Bundespolitik bereits in Angriff genommen. Die grundlegende Misere der zu wenigen Pflegekräfte ist damit aber natürlich nicht behoben! Manche Verbesserungen werden auch durch negative Entwicklungen konterkariert, so daß die Situation sich leider eher verschärft als entspannt hat. Hinzu kommt: Durch die Corona-Pandemie sind schon vorher bestehende Mängel noch deutlicher zu Tage getreten.
Schutzbedürftige sogenannte vulnerable Menschen in stationären Einrichtungen möglichst vor Ansteckung zu schützen, ist eine ernst zu nehmende Herausforderung. Aber: Die Skepsis des Pflegepersonals gegenüber der einrichtungsbezogenen Impfpflicht und anderen, ausschließlich für die Pflegeeinrichtungen geltenden Schutzauflagen, ist sehr groß, wie ich in vielen Gesprächen mit Einrichtungen und Pflegekräften erfahren habe. Die allgemeine Impfplicht wiederum hat im Bundestag keine Mehrheit gefunden.
Umso wichtiger sind jetzt Regelungen, die Respekt vor der Dauerbelastung des Pflegepersonals zeigen, die hohe Impfquote in den Einrichtungen berücksichtigen und pragmatische Lösungen für die Quarantäne von Pflegekräften ermöglichen. Bei künftigen Corona-Auflagen sollten Kompetenz und Erfahrung von Pflegekräften und Einrichtungsleitungen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.
Corona hat aber auch gezeigt, wie wichtig eine gute Krankenhausversorgung in der Fläche ist und wie schnell sich die angeblich viel zu hohe Zahl der Krankenhausbetten im Krisenfall relativiert. Wir brauchen eine starke Krankenhausversorgung – überall. Das geht nur mit einer konsequenten Krankenhausplanung des Freistaates Bayern und der besseren Finanzierung von Bau und Ausstattung der Krankenhäuser. Die seit langen Jahren durch den Freistaat gekürzte und gestrichene Förderung (z.B. für Küche, Außenanlagen, Ausstattung) muss dringend wieder ausgeweitet werden.
Immerhin hat der Bund dafür gesorgt, dass die Etats der Krankenhäuser nicht weiter auf Kosten der Pflege saniert werden und die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgerechnet werden.
Bei der notwendigen, besseren Bezahlung der Pflegekräfte hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Jahr 2021 große Anstrengungen unternommen, die Tarife insbesondere in privaten Pflegeeinrichtungen durch einen standardisierten Einheitstarif deutlich anzuheben. Gescheitert ist dies an der fehlenden, aber für die Umsetzung erforderlichen Zustimmung der großen Träger. Dafür mag es nachvollziehbare Argumente aus Verbandssicht geben, aber insgesamt wurde eine große Chance zur Verbesserung der Lohnstruktur für alle Pflegekräfte vertan. Stärkere gewerkschaftliche Vertretung des Pflegepersonals wäre hier ein wichtiger Schritt zu mehr Durchsetzungsfähigkeit.
Von zentraler Bedeutung ist es für mich, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen von unnötigen bürokratischen Auflagen zu befreien. Aber die Ursachen für diese Auflagen sind vielfältig und können nur in einem gemeinsamen Kraftakt aller Beteiligten beseitigt oder zumindest abgebaut werden.
Eines sollte uns aber auch klar sein: Solange Pflege immer nur im Zusammenhang mit „Problem“, „Skandal“, „Notstand“, „Misere“ oder „Mangel“ Thema ist, solange müssen wir uns nicht wundern, dass viele, die gut geeignet wären, nicht im Berufsfeld Pflege arbeiten wollen. So notwendig es ist, über die Probleme in der Pflege zu sprechen, müssen wir Menschen zugleich Mut machen, diesen verantwortungsvollen und erfüllenden Beruf zu ergreifen. Wir müssen den Pflegekräften durch Vertretungs-Poollösungen die Last des permanenten Rund-um-die-Uhr-Einsatzes und die Gefahr des Burnouts nehmen. Kein Verständnis habe ich deshalb dafür, dass wir bei der Anerkennung ausländischer Fachkräfte nicht schneller und offener sind und geeigneten Menschen mit Fluchthintergrund, die alle Voraussetzungen mitbringen, gute Pflegekräfte zu sein, mit Abschiebung drohen, statt sie einzustellen und ihre Fähigkeiten zu nutzen.