Hüter der Heimat
Als Kreisheimatpfleger für Rhön-Grabfeld ist Reinhold Albert regelrecht eine Institution – in den vergangenen 40 Jahren verfaßte er über 50 Bücher und zahllose Aufsätze zu nahezu allen Aspekten der Geschichte des Grabfeldes.
Text: Sabine Haubner | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Unheimlich“, Reinhold Albert kann es selbst nicht so recht begreifen. 623 Titel umfaßt die lange Liste seiner Veröffentlichungen zu Brauchtum, Geschichte und Kultur des Landkreises Rhön-Grabfeld, verfaßt in den vergangenen 40 Jahren. Unglaublich, wenn man bedenkt, daß sich darunter 50 Bücher befinden, die auch schon mal 635 Seiten umfassen können. Freilich, die Themen erwachsen aus Alberts Ehrenämtern. Seit 1983 engagiert er sich als Kreisarchivpfleger für den Landkreis Rhön-Grabfeld. Unter seiner Anleitung wurden 110 Gemeindearchive neu geordnet, was ihm den Ehrentitel „Herr der Archive“ einbrachte. 1991 wurde er zum Kreisheimatpfleger für den Altlandkreis Königshofen, später für den gesamten Landkreis Rhön-Grabfeld ernannt. Aber woher nimmt er Zeit und Energie?
Wunderschön weltabgelegen
Wenige Tage vor Ostern macht das Wetter auf Frühsommer im „weltabgelegenen, wunderschönen kleinen Sternberg im Grabfeld“, wie Albert seinen Heimatort vorab beschreibt. Die innerdeutsche Grenze verlief 300 Meter vom Haus entfernt. Zonenrandgebiet, was für die Kulturdenkmäler ein Vorteil war. „Dadurch ist viel erhalten geblieben, wie unsere schönen, alten Kirchen.“
Die Hanglage am Rande eines lichten Buchenwaldes und noch kahle Obstbaumkronen erlauben einen Blick auf verschachtelte Dächer, Fachwerkgiebel und -flanken alter Gehöfte in mildem Frühlingslicht. Über die Firste schieben sich die vier Turmspitzen des dahinterliegenden Barockschlosses in den zart dunstigen Himmel.
Mit diesem imposanten Bauwerk hat alles angefangen. „Schon als Bub hab‘ ich mich für seine Geschichte interessiert“, so Albert. Kein Wunder. Die vierflügelige Schloßanlage bestimmt das Dorfbild und wirkt weit darüber hinaus. Doch dessen Faszinosum wurde für den Jungen Reinhold noch durch etwas anderes gespeist. Als Sitz der religiösen Gemeinschaft „Menschenfreundliches Werk“ war es dem allgemeinen Zutritt verschlossen, was ihm eine geheimnisvolle Aura verlieh. Das aktivierte den Forschergeist des Jugendlichen – und der fand reichlich Anregung im Grabfeld, einer der am frühesten bezeugten fränkischen Kulturlandschaften. „Das Interesse hat sich gesteigert. Wenn man sich mit so einem Thema beschäftigt, kommt das von selbst“, erklärt Albert.
Heimathingabe
Erstes Wissensfutter lieferte die Heimatkunde in der Schule. Erzählte Geschichten und Erlebnisse boten dem Jungen weitere spannende Themen, Wissensbestände, die er später schreibend konservierte. Die Grundlage zu diesem Festhalten heimatrelevanter Informationen wurde ebenfalls in Alberts Kindheit gelegt. „Mein Vater war Bürgermeister von Sternberg und hat mich als Bub zum Gemeindeschreiber gemacht.“ Das jüngste Ergebnis dieser glücklichen Verquickung von Neigung und erstem Engagement hält er an diesem Nachmittag stolz in Händen. Die Ortschronik von Wülfershausen ist ein „Bombenerfolg“ und „ein Monstrum“, mit ihren 635 Seiten. „So ein dickes Buch wollt‘ ich ja gar net schreiben“, meint der Autor und lacht. Hat sich so ergeben, wie so vieles. In der Endphase der Produktion kamen noch ganz wunderbare, alte Fotos dazu, von Wülfershäusern zur Verfügung gestellt, die sich zunehmend mit dem Projekt und ihrem Dorf identifizierten. Ganz im Sinne des Autors. Bilder sind für ihn wichtig als Leseeinstieg. „Ich muß die Leute animieren, daß sie ihre Heimat kennenlernen. Dann haben sie nämlich einen anderen Bezug dazu.“ Das geht ihm ja selbst nicht anders mit all seinem Wissen. „Hier bin ich geboren, das ist meine Heimat. Je mehr du von einer Gegend weißt, in der du lebst, desto mehr weißt du zu schätzen, was es bedeutet, eine Heimat zu haben.“
Erinnern, auch wenn’s weh tut
Diese Heimat in ihrer Vielfalt erfassen, vergessene Geschichten und Geschichte vor dem endgültigen Verlust bewahren, obsoletes Brauchtum wiederbeleben, Verborgenes und Unbeachtetes ans Tageslicht holen, etwa die Schönheiten alter Dorfkirchen und das Anrührende kleiner Kunstwerke, das ist Alberts Anliegen. Dabei geht es ihm nicht um einen Heimatbegriff, der Idylle und Geborgenheit heraufbeschwört, als Chronist geht es ihm um alle Aspekte, auch die weniger angenehmen. So war ihm, nach etlichen heimatkundlichen Aufsätzen und Beiträgen, gerade sein erstes Buch, die „Geschichte der Juden im Grabfeld“ (Kleineibstadt, 1990), ein Bedürfnis. Den Anstoß gaben Berichte eines Nachbarn über Greueltaten der Nationalsozialisten im KZ Dachau, der dort als Wärter eingesetzt war. Alberts Großvater hatte davon erfahren und sie seinem Enkel weitererzählt. „Ich hab‘ mir geschworen, ich schreib ein Buch, damit nicht vergessen wird, wie es den Juden hier ergangen ist.“ Damals sei noch die Zeit gewesen, in der man dieses Kapitel lieber nicht aufschlagen wollte. Am Wirtshaustisch mußte er öfter hören: Irgendwann muß doch mal Schluß sein mit den alten Geschichten! Für den Heimatpfleger aber war es „höchste Zeit“, sie wieder ans Licht zu bringen. „Sonst passiert so was
wieder.“
Schichtdienst und Sammeleifer
Mit 15 Jahren hat Reinhold Albert angefangen, alles zusammenzutragen, was mit dem Grabfeld zu tun hat. Dreizehn Jahre später, 1981, folgte seine erste Veröffentlichung zu seinem Forschungsobjekt aus Kindertagen: die „Geschichte des Schlosses Sternberg“, abgedruckt in den „Heimatblättern Rhön-Grabfeld“. In den Jahren dazwischen absolvierte er seine Ausbildung zum Polizisten. Ein Beruf, den er gerne ausübte, weil er Menschen helfen konnte und der Schichtdienst ihm erlaubte, seiner Leidenschaft nachzugehen. Zwei Tage Arbeit, gefolgt von zwei freien Tagen, die er für seine Forschungen und das Schreiben nutzte. „Ich denk‘ fast a mal, das war ein Ausgleich.“
Seine Produktivität war manchem wenig wohlmeinenden Zeitgenossen suspekt. Bei seinen Vorgesetzten landeten Hinweise, daß Herr Albert wohl während seiner Arbeitszeit Heimatforschung betriebe.
Tatsächlich steckte ein beeindruckendes Pensum dahinter, das er neben Job und Familienleben – zusammen mit seiner Frau Marianne hat er drei Kinder – bewältigte. Ohne ihr Verständnis und ihre Unterstützung wäre das nicht machbar gewesen. Das gilt auch heute. „Wenn ich meine Frau nicht hätte. Sie hilft mir unheimlich viel.“ Marianne Albert tippt seine Audioaufzeichnungen ab, lektoriert Texte – und begleitet ihren Mann gerne zu Archivrecherchen nach Würzburg, um, wie sie es ausdrückt, das „Nützliche mit dem Angenehmen“ zu verbinden.
Schätze im Archiv
Acht bis neun Stunden am Tag verbringt der Heimatforscher, seit sieben Jahren eigentlich im Ruhestand, mit dem Bearbeiten von Anfragen, Recherchen, Schreiben, den Vorarbeiten zum Heimatjahrbuch Rhön-Grabfeld, das er seit 16 Jahren herausgibt, der Auswahl von Fotos und Dokumenten für Ausstellungen oder Vorträge. Dazu steigt er jeden Tag in sein Heimatlaboratorium hinab, das er augenzwinkernd als seine „Folterkammer“ präsentiert. Im Prinzip ist der ganze Tageslichtkeller ein umfangreiches Archiv. In den Regalwänden reihen sich wohlgeordnet Ortschroniken, eigene Publikationen, Dokumentenordner, Fotomappen und Standardwerke zum Nachschlagen. Der Platz wird langsam knapp. Die Bücher haben bereits das anschließende Gäste-WC geentert.
Besonders stolz ist Albert auf seine große DDR-Sammlung: 20 Ordner, die Geschichte von Anfang bis zum Schluß. Während seiner Dienstzeit bei der Bayerischen Grenzpolizei sammelte er dazu viel Stoff wie Polizeiberichte, Zeitungsartikel und an die 1 000 Fotos. Wertvolle Zeitdokumente und Expertenwissen, beides ließ er in eigene Publikationen einfließen oder steuerte es bei, etwa zu der Buchreihe „Grenzerfahrungen Bayern/Thüringen“ oder der Ausstellung „Museum für Grenzgänger – Nachbarn im Grabfeld“.
Gibt es noch andere Lieblingsthemen? „Alles.“ Die Antwort kommt ohne Zögern und seine Frau ergänzt: „Du hast ja bald alles durch. Das Buch über die Bräuche war dein Lebenstraum.“ 2018 hat er ihn verwirklicht unter dem Titel „Silberstrauß und Ringelein, silbern ist das Mägdelein“. Ein unverzichtbares Lexikon und Krönung jahrzehntelanger Sammelarbeit.
Für sein außerordentliches Engagement wurde Albert mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2017 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande.
Man müßte 200 Jahre leben
Seine Frau bezeichnet ihren Mann als Workaholic, er deklariert seine Heimatforschung als Hobby, das ihm einfach Spaß mache. Und was soll man schon machen, wenn einen jedes Thema interessiert und man überall gefragt ist. „Man müßte 200 Jahre leben, um alles zu schaffen.“ Manchmal wird es aber selbst ihm zuviel. „Gut, daß es wieder wärmer wird, dann muß ich raus, den Rasen mähen.“ Abstand zum Archiv halten fällt ihm ganz leicht, wenn seine beiden Enkel aus Frankfurt zu Besuch sind. Und dann gibt es noch den Loseiser Benny, den kleinen Hund des Nachbarn, mit dem Albert regelmäßig spazierengeht.
Richtig Abstand gewinnt das Ehepaar in seinen Urlauben in Südtirol und auf Fuerteventura. Marianne Albert empfiehlt beim Abschied einen Besuch von Schloß Trauttmansdorff samt Park in Meran. Die spätere Internet-Recherche läßt an einer strengen Auszeit zweifeln. „Wieso befindet sich ein Gemälde von Sternberg in einem Südtiroler Schloß“, lautet der Titel eines Treffers, der Name des Autors: Reinhold Albert.